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Die guten Tage - Italienische Märchen
Die guten Tage
Zu Casena in Romagna lebte eine arme Witwe, eine sehr wackere Frau
namens Lucietta. Sie hatte einen einzigen Sohn, der an Dummheit und
Faulheit seines Gleichen suchte. Bis zwölf Uhr mittags lag er im Bette
und bevor er aufstand, rieb er sich erst eine ganze Stunde die Augen,
reckte Arme und Beine, kurzum, gebärdete sich wie der ärgste Faulpelz
von der Welt.
Hierüber betrübte sich die arme Mutter gar sehr, denn sie hatte
gehofft, er würde eines Tages die Stütze ihres Alters sein. Um ihn nun
unverdrossener und tätiger zu machen, hörte sie gar nicht auf ihn zu
ermahnen und sagte zu ihm: „Mein Sohn, wer gute Tage in der Welt haben
will, der muss sich anstrengen, fleißig sein und mit Tagesanbruch
aufstehen; denn das Glück steht wohl dem Wachsamen und Arbeitsamen,
nicht aber dem Trägen und Schläfrigen bei. Deshalb, mein Sohn, glaube
und folge meinem Rat, so wirst du gute Tage erleben und es wird alles
zu deiner Zufriedenheit ausschlagen."
Lucilio, so hieß der junge Mensch, einfältiger als die
Einfalt selber, hörte zwar, was die Mutter sprach,
verstand aber den Sinn ihrer Worte nicht. Und wie aus
einem tiefen und schweren Schlafe erwachend, erhob er
sich und schlenderte vor das Stadttor hinaus, wo er
sich, um dort weiter zu schlafen, quer über den Weg
legte, so dass alle, welche zur Stadt kamen oder
hinausgingen, über ihn fallen mussten.
Zufällig traf es sich, dass gerade in der vorigen Nacht
drei Einwohner von Casena hinausgegangen waren, einen
Schatz zu graben, den sie entdeckt hatten.
Sie hatten ihn auch glücklich gehoben und waren eben im
Begriff, ihn nach Hause zu tragen, als sie auf Lucilio
stießen, der am Wege lag, aber nicht mehr schlief,
sondern eben aufgewacht war und sich nach dem guten Tag
umsah, den seine Mutter ihm prophezeit hatte.
„Gott schenk' euch einen guten Tag, mein Freund“, sagte
der erste jener drei Männer, als er an ihm vorüberging.
„Gott sei gelobt!“, rief Lucilio, da er von guten Tagen
hörte, „da hab' ich einen!"
Der Schatzgräber, im Bewusstsein seiner Schuld, meinte
nicht anders, als diese Worte bezögen sich auf ihn und
das Geheimnis sei verraten. Natürlich, denn wer ein
böses Gewissen hat, denkt bei den gleichgültigsten
Sachen, es sei von ihm die Rede.
Der zweite ging ebenso vorüber, dem Lucilio einen guten
Tag bietend, worauf Jener, an die guten Tage denkend,
halb laut sagte: „Gottlob, nun hab' ich ihrer zwei!"
Nun kam auch der dritte und grüßte gleicherweise, indem er
Gott um einen guten Tag für ihn bat. Da sprang Lucilio
voller Freuden auf und rief: „O vortrefflich, nun hab'
ich alle drei! Das ist mir ganz besonders geglückt."
Er meinte damit die drei guten Tage, allein die
Schatzgräber dachten, er meine sie, und da sie sich
fürchteten, er möge hingehen, sie bei der Obrigkeit
anzeigen, so riefen sie ihn bei Seite, erzählten ihm
alles und gaben ihm, damit er schweige, den vierten Teil
ihres Schatzes.
Ganz vergnügt darüber, nahm Lucilio seinen Anteil, brachte
ihn nach Hause zu seiner Mutter und sagte: „Liebe
Mutter, Gottes Segen ist mit mir gewesen, denn weil ich
getan habe, wie ihr mich geheißen habt, so hab' ich die
guten Tage gefunden. Nehmt dies Geld und kauft dafür
alles, was wir zum Leben brauchen."
Die Mutter freute sich nicht wenig über diese glückliche
Begebenheit und ermahnte den Sohn, auch noch ferner
recht betriebsam zu sein, damit er immer so gute Tage
erlebe wie diese.
Märchen der Welt, nach einer Übersetzung von Dr. Kletke, 1846, mit angepasster Schreibweise.