Märchen Autoren: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Märchen Titel: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Märchen Themen: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Das Mädchen im Schrein - Italienische Märchen
Das Mädchen im Schrein
Thebaldo, Fürst von Salerno, hatte eine kluge, liebenswürdige
Gemahlin, von vornehmer Abkunft, und eine Tochter, die an Schönheit
und Sittsamkeit alle Jungfrauen von Salerno weit übertraf. Doch es
war' ihm besser gewesen, nie eine solche Tochter gehabt zu haben, denn
es war' ihm das nicht begegnet, was ihm so widerfuhr!
Als nun die Frau, welche jung an Jahren, aber alt an Verstande war,
tödlich erkrankte, bat sie ihren Gemahl, den sie zärtlichst liebte,
keine andere zur Frau zu nehmen, als die, welcher der Ring, den sie am
Finger trug, vollkommen so passe wie ihr. Der Fürst, welcher seine
Gemahlin nicht minder liebte als sie ihn, schwur ihr bei seinem Haupt,
zu tun, was sie von ihm verlangte.
Nachdem die schöne Frau gestorben und mit allen Ehren bestattet worden
war, bekam Thebaldo Lust, sich wieder eine Frau zu nehmen; doch
gedachte er des Versprechens, welches er der Verstorbenen gegeben
hatte, und wollte durchaus nicht gegen ihr Gebot handeln.
Bald ward es überall bekannt, dass der Fürst von Salerno sich wieder
vermählen wolle, und diese Nachricht gelangte auch zu den Ohren vieler
Jungfrauen, die an Stand und Tugenden nicht unter Thebaldo waren. Der
Fürst aber, welcher vor allen Dingen den Willen seiner verstorbenen
Gattin zu erfüllen wünschte, verlangte zuerst, an allen den
Jungfrauen, welche ihm zur Gemahlin angeboten worden, den Ring zu
probieren, und da er keiner passen wollte, der einen zu eng, der
andern zu weit war, schlug er sie alle miteinander aus.
Da geschah es, dass die Tochter des Thebaldo, Doralise,
als sie eines Tages mit ihrem Vater speiste, den Ring ihrer seligen
Mutter auf dem Tisch liegen sah; sie steckte ihn an den Finger und
sagte zum Vater: „Sieh doch, lieber Vater, wie gut mir der Ring meiner
Mutter passt." Und der Vater fand, dass er wirklich wie angegossen an
ihrem Finger saß.
Allein es dauerte nicht lange, so kam dem Thebaldo der seltsame,
teuflische Gedanke in den Kopf, Doralise, seine Tochter, zur Frau zu
nehmen, und lange Zeit schwankte er zwischen ja und nein.
Endlich aber, besiegt von diesem ruchlosen Verlangen und
entzündet von ihrer Schönheit, rief er sie eines Tages zu sich und
sagte: „Liebe Tochter, als deine Mutter die Nahe des Todes fühlte, bat
sie mich flehentlich, keine andere zur Frau zu nehmen, als die,
welcher der Ring passen würde, den sie bei Lebzeiten an ihrem Finger
trug, und ich schwur bei meinem Haupt, ihren Willen durchaus zu
erfüllen."
„Nun habe ich mit so vielen Jungfrauen die Probe gemacht, aber keiner
von allen hat der Ring deiner Mutter gepasst außer dir, weshalb ich
beschlossen habe, dich zur Gemahlin zu nehmen; denn so erreiche ich
meinen Wunsch und breche auch das Versprechen nicht, welches ich
deiner Mutter gegeben habe."
Doralise, welche nicht weniger tugendhaft als schön war, erschrak
heftig, da sie die böse Absicht ihres ruchlosen Vaters vernahm, allein
sie verbarg es; denn aus Furcht ihn zu erzürnen, wollte sie lieber auf
seinen abscheulichen Vorschlag jetzt nichts antworten, zeigte sich
scheinbar fröhlich und entfernte sich.
Da sie Niemanden hatte, welchem sie mehr vertraute, als ihrer Amme, so
nahm sie gleich zu dieser als zu der Quelle ihres Trostes ihre
Zuflucht und bat um ihren Rat. Als diese von dem verdammungswürdigen
Verlangen des Vaters hörte, zugleich aber die Jungfrau standhaft und
fest entschlossen sah, weit eher die größte Marter zu erdulden, als in
die Raserei ihres Vaters zu willigen, tröstete sie dieselbe und
versprach ihr ihren ganzen Beistand, um sie vor dieser Schmach zu
schützen. Sie sann also hin und her auf ein Mittel, wie sie ihr
Pflegekind aus der drohenden Gefahr erretten könne, und es fiel ihr
bald dies, bald jenes ein, doch fand sie keins, das ihr vollkommen
Sicherheit gewährte. Flucht und Entfernung von ihrem Vater schien
allerdings das beste, zugleich aber fürchtete sie von seiner List, er
werde sie wieder einholen und dann gewisslich um's Leben bringen. Als
nun die treue Amme dergleichen Überlegungen bei sich anstellte, kam
ihr mit einmal ein ganz neuer Gedanke.
In dem Zimmer der verstorbenen Fürstin befand sich ein sehr schöner
und kunstreich gearbeiteter Schrein, in welchem die Tochter ihre
prächtigen Kleider und kostbaren Juwelen aufbewahrte. Niemand verstand
ihn zu öffnen als die kluge Amme. Diese nun nahm heimlich alle die
Kleider und den Schmuck heraus, und setzte dafür einen Trank hinein,
welcher eine so große Kraft hatte, dass Jeder, der davon nur einen
Löffel voll oder selbst noch weniger zu sich nahm, lange Zeit ohne
andere Nahrung leben konnte. Sodann rief sie Doralise, schloss sie in
den Schrein ein und riet ihr, darin zu verweilen, bis ihr Gott ein
günstigeres Geschick senden und ihr Vater von seinem bösen Vorhaben
abstehen würde.
Das Mädchen gehorchte ihrer guten Amme und tat wie diese ihr riet. Der
Vater, welcher seinem schändlichen Triebe nicht entsagte, seinen
ungezügelten Willen nicht unterdrückte, fragte wiederholt nach seiner
Tochter und da er sie nicht fand und nicht erfahren konnte, wo sie
sei, geriet er in eine solche Wut, dass er drohte, sie umbringen zu
lassen.
Nach einigen Tagen trat Thebaldo eines Morgens in das Zimmer, in
welchem der Schrein stand und der Anblick desselben wurde ihm mit
einmal so unerträglich, dass er besaht, man solle ihn von dort
wegnehmen und verkaufen, damit er einen so verdrießlichen Gegenstand
nicht mehr vor Augen habe. Die Diener beeilten sich also, das Gebot
ihres Herrn zu erfüllen, nahmen den Schrein unverzüglich auf die
Schultern und trugen ihn auf den Marktplatz.
Es traf sich, dass gerade in demselben Augenblicke ein reicher
genuesischer Kaufmann auf den Markt kam, und als er den schönen, so
kunstvoll gearbeiteten Schrein erblickte, gefiel ihm derselbe so sehr,
dass er ihn um jeden Preis zu kaufen beschloss. Er ging also zu dem
Diener hin, welchem der Verkauf übertragen worden war, machte den
Handel mit ihm ab, lud den Schrein sogleich einem Lastträger auf den
Rücken und ließ ihn in sein Schiff bringen.
Die Amme, welche alles sah, freute sich sehr darüber, denn obwohl es
ihr nicht wenig nahe ging, dass sie ihr Pflegekind verlieren sollte,
tröstete sie sich gleichwohl damit, dass, wann zwei große Übel drohen,
man das kleinste wählen muss.
Der Kaufmann verließ Salerno, mit seinem Schrein und andern Waren
reich befrachtet, und gelangte zur Insel Britannien, welche heut zu
Tag England genannt wird. Er landete in einer Gegend, bei welcher sich
eine weite Ebene befand, und sah dort Genese, kürzlich erst zum Könige
von England gekrönt, der an der Küste der Insel eine sehr schöne
Hirschkuh eifrig verfolgte, die sich aus Furcht in die Wellen des
Meeres stürzte.
Der König, müde und matt von dem langen Ritt, ruhte ein wenig aus und
da er das Schiff sah, begehrte er von dem Schiffsherrn einen Trunk.
Dieser stellte sich, als ob er den König nicht kenne, empfing ihn sehr
zuvorkommend, begrüßte ihn auf das Höflichste und bewog ihn endlich,
mit ihm in das Schiff zu gehen.
Als nun der König hier den schönen, zierlich gearbeiteten Schrein
erblickte, empfand er großes Verlangen, ihn zu besitzen, fragte den
Schiffsherrn, wie hoch er ihn halte, und jener forderte einen sehr
ansehnlichen Preis. Aber der König, von diesem kostbaren Gegenstande
ganz entzückt, ging nicht eher fort, als bis er sich mit dem Kaufmann
über den Preis geeinigt hatte; dann ließ er das nötige Geld
herbeiholen, bezahlte, nahm Abschied und hieß den Schrein geradewegs
nach seinem Palast tragen und in seinem Zimmer aufstellen
Da Genese, noch sehr jung war, so hatte er sich noch nicht vermählt
und sein größtes Vergnügen bestand darin, täglich ganz zeitig auf die
Jagd zu gehen. Doralise, die Tochter Thebaldos, welche in dem Schrein
verschlossen war, der in dem Zimmer des Königs stand, hörte alles, was
daselbst vorging, und schöpfte nach so viel überstandenen Gefahren
neue Hoffnung auf ein günstiges Geschick. Sobald nun der König sein
Zimmer verlassen hatte, um, seiner Gewohnheit nach, auf die Jagd zu
gehen, verließ die Jungfrau ihren Schrein, brachte das ganze Zimmer
mit großer Sauberkeit und Behutsamkeit in Ordnung, fegte es aus und
machte das Bett, indem sie die Kopfkissen zurecht legte und eine mit
großen Perlen und anderen Kostbarkeiten reich gestickte Decke darüber
breitete. Dann streute das schöne Mädchen Rosen auf das Bett, Veilchen
und noch viele andere Blumen und Kräuter, die einen eben so angenehmen
wie stärkenden Geruch verbreiteten. Dies alles tat sie einige Mal,
ohne dass sie von Jemand gesehen wurde.
König Genese freute sich ganz ungemein darüber, denn wenn er von der
Jagd zurückkehrte und in sein Zimmer trat, so war es ihm, als ob er
sich mitten unter allen Wohlgerüchen und Spezereien des Orients
befinde. Eines Tages wollte der König von seiner Mutter und ihren
Fräuleins wissen, wer denn so freundlich und aufmerksam sei und ihm
sein Zimmer so prächtig schmücke und mit Wohlgerüchen erfülle. Sie
antworteten ihm aber, sie wüssten nichts davon, denn jedes Mal, wenn
sie kämen, sein Zimmer aufzuräumen, fänden sie schon sein Bett mit
Rosen und Veilchen bedeckt und von süßen Kräutern duftend.
Als der König diese befremdende Antwort erhielt, nahm er sich vor,
durchaus zu erfahren, wie es damit zugehe, und statt eines Morgens,
wie er vorgab, nach einem zehn Meilen weit von der Stadt entfernten
Schlosse zu gehen, verbarg er sich heimlich in seinem Zimmer und
beobachtete, durch eine Spalte sehend, was sich begeben würde.
Nicht lange, so ging Doralise, leuchtender als die Sonne, aus dem
Schrein hervor, reinigte das Zimmer, legte die Teppiche zurecht,
bereitete das Bett und tat alles, wie sie es früher zu tun gewohnt
war. Das liebenswürdige Mädchen hatte ihre freundlichen, sorgfältigen
Dienste kaum vollendet, als sie wieder in ihren Schrein zurückkehren
wollte, aber der König, welcher alles aufmerksam beobachtet hatte, kam
schnell herbei, ergriff sie bei der Hand und fragte das Mädchen,
welches schön und blühend wie eine Lilie aussah, wer sie sei.
Doralise antwortete zitternd, sie sei die einzige Tochter eines
Fürsten, auf dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern könne, weil sie
so lange Zeit bereits im Schrein verborgen gewesen sei; weshalb sie
aber darin gewesen, wollte sie ihm nicht entdecken.
Der König nahm sie hierauf mit Zustimmung seiner Mutter zur Gemahlin
und sie gebar ihm zwei Söhne.
Da Thebaldo, der in seinem verabscheuungswürdigen, ruchlosen Verlangen
beharrte, so lange suchte und wieder suchte, ohne sie zu finden, fiel
ihm ein, sie könne wohl in dem Schrein gewesen sein, den er verkauft
habe, und nun in der Welt umherirren. Er entschloss sich also,
hingerissen von seinem Zorn, die ganze Welt zu durchstreifen, ob er
sie irgendwo finden könnte. Er verkleidete sich als ein Kaufmann, nahm
eine Menge Juwelen und andere kostbare Goldarbeiten mit und verließ
so, ganz unkenntlich, Salerno. Nachdem er mehrere Länder durchwandert
hatte, begegnete er zufällig dem, welchem er den Schrein zuerst
verkauft hatte, und fragte ihn, ob er einen guten Gewinn dabei gemacht
habe und in wessen Hände der Schrein gekommen sei. Der Kaufmann
erwiderte ihm, er habe ihn an den König von England verkauft und mehr
als das Doppelte daran verdient.
Über diese Nachricht war Thebaldo sehr erfreut und nahm sogleich
seinen Weg nach England, und kaum war er in der Stadt angelangt, wo
der König sich aufhielt, so stellte er alle seine Edelsteine und
Kostbarkeiten, unter denen auch Rocken und Spindeln waren, an den
Mauern des Palastes auf und fing an zu schreien: „Ihr Frauen, schaut
meine kostbaren Rocken und Spindeln!"
Als eins der Fräulein im Schlosse dies hörte, lief es ans Fenster, und
da es den Kaufmann mit seinem köstlichen Warenlager erblickte, eilte
es unverzüglich zur Königin und erzählte ihr, es sei auf der Straße
ein Kaufmann mit goldenen Rocken und Spindeln, so schön, so prächtig,
wie es nie dergleichen gesehen.
Die Königin befahl, man solle ihn heraufkommen lassen, und er wurde
also die Stiegen des Palastes hinauf bis in den Saal geführt, wo sich
die Königin befand, die ihren Vater nicht erkannte, weil sie feiner
nicht mehr gedachte: wohl aber erkannte der Kaufmann seine Tochter.
Als die Königin die prächtigen Rocken und Spindeln sah, fragte sie den
Kaufmann, wie viel sie kosten sollten. „Ich verlange viel dafür“,
versetzte er, „wenn mir jedoch eure Hoheit gestatten wollten, eine
Nacht in der Kammer eurer beiden Söhnchen zu schlafen, so würde ich
euch alle diese Waren dafür zum Geschenk machen."
Die gute Frau, welche selber so ohne Arg und Falsch war und sich daher
auch von dem Kaufmann nichts Böses versah, willigte auf das Zureden
ihrer Fräulein in sein Gesuch. Bevor ihn aber die Diener zu Bett
führten, trug sie einer ihrer Frauen auf, ihm einen Schlaftrunk zu
geben. Als nun die Nacht gekommen war und der Kaufmann sich müde
stellte, führte ihn eine der Frauen in das Schlafgemach der beiden
Königskinder, wo man ihm ein prächtiges Bett bereitet hatte, und bevor
er sich zur Ruhe legte, fragte ihn die Frau: „Guter Vater, habt ihr
Durst?"
„Ja, mein Kind“, sagte er, worauf sie einen silbernen Becher nahm und
ihm einen Schlaftrunk reichte, der in den Wein gemischt war. Der
schlaue, tückische Kaufmann aber stellte sich nur, als ob er trinke
und schüttete den ganzen Wein unvermerkt in seine Kleider, worauf er
sich zur Ruhe legte.
In dem Schlafzimmer der Kinder war eine kleine Tür, durch welche man
in das Gemach der Königin gelangen konnte. Um Mitternacht, als alles
in tiefem Schlafe lag, stand der Kaufmann auf, schlich leise in das
Zimmer der Königin, näherte sich ihrem Bette und nahm ein kleines
Messer, welches die Königin, wie er bemerkt hatte, den Tag vorher an
ihrer Seite trug. Hierauf ging er zur Wiege, in welcher die Kinder
lagen, tötete alle beide, trug das blutige Messer zurück und steckte
es in die Scheide. Sodann öffnete er ein Fenster und ließ sich mit
Hülfe einer Strickleiter hinab. Kaum brach der Tag an, so ging er in
eine Barbierstube, ließ sich den langen Bart abscheren, damit man ihn
ja nicht wieder erkenne, zog andere Kleider an und wanderte durch die
Stadt.
Als die Ammen, welche fest geschlafen hatten, zur gewohnten Stunde
aufwachten, um den Kindern Nahrung zu geben, und sich über die Wiege
beugten, fanden sie die Kleinen getötet. Da fingen sie laut an zu
schreien, weinten und jammerten entsetzlich, zerrauften ihr Haar und
rissen sich die Kleider vom bloßen Leibe. Bald gelangte auch diese
traurige Neuigkeit zu dem Könige und der Königin, welche barfuß und
unbekleidet aufsprangen und zu dem erbarmungswürdigen Schauspiel
hineilten. Bei dem Anblick ihrer toten Kinder brachen sie in die
bittersten Tränen aus. Schon war die ganze Stadt voll von diesem
entsetzlichen Morde und zugleich hatte sich auch die Nachricht
verbreitet, ein berühmter Sterndeuter sei angelangt, der aus dem Laus
der Gestirne das Vergangene wie das Zukünftige erforschen könne.
Als dem Könige der Ruf seiner Kenntnisse zu Ohren kam, ließ er ihn
holen und fragte ihn, ob er durch seine Kunst erforschen könne, wer
seine Kinder getötet habe. Der Sterndeuter entgegnete, er wisse es und
indem er sich dem Ohre des Königs näherte, sagte er leise zu ihm:
„Geheiligte Majestät, lass alle Männer und Frauen deines Hofes, die
ein Messer an ihrer Seite tragen, vor dich führen, und derjenige, bei
welchem du das Messer in der Scheide befleckt finden wirst, ist der
wahre Mörder deiner Kinder."
Hierauf mussten auf Befehl des Königs alle Hofleute vor ihm erscheinen
und mit eigener Hand untersuchte er sorgfältig einen nach dem andern,
ob er ein blutbeflecktes Messer habe. Da er kein einziges fand,
welches die Zeichen jener blutigen Gewalttat trug, kehrte er zu dem
Sterndeuter zurück und erzählte ihm alles, was er getan hatte, und
dass er selbst bei Allen nachgesucht, seine eigene Mutter und die
Königin ausgenommen.
„Majestät“, sagte der Sterndeuter, „sucht wohl nach, ohne Ansehen der
Person, dann werdet ihr ohne Zweifel den Täter finden."
Der König suchte zuerst bei der Mutter nach und fand nichts bei ihr,
endlich rief er auch die Königin, nahm die Scheide, welche sie an der
Seite trug und fand das Messer ganz voll Blut. Als der König diesen
augenscheinlichen Beweis ihrer Schuld sah, wandte er sich, vor Wut
ganz außer sich, zu ihr und rief: „O unmenschliches, gottvergessenes
Weib, du Feindin deines eigenen Blutes, Verräterin an deinen eigenen
Kindern, wie war es dir möglich, deine Hände mit dem Blute dieser
unschuldigen Kinder zu beflecken? Ich schwöre bei Gott, du sollst eine
Strafe erdulden, wie sie deiner Tat zukommt!"
Wie sehr auch der König, von Wut entflammt, sich auf der Stelle durch
einen schmachvollen Tod an ihr zu rächen verlangte, kam ihm doch bald
ein neuer Gedanke, wie er sie eine weit größere und schmerzlichere
Qual erdulden lassen könne. Er befahl, die Königin zu entkleiden und
mit entblößtem Körper bis an den Hals in die Erde einzugraben und
während die Würmer langsam ihr Fleisch verzehrten, ihr mit guten
Speisen das Leben zu fristen, damit ihre Qual und ihre Strafe um so
länger währe. Die Königin, welche schon so viel Elend erduldet hatte,
unterwarf sich, im Bewusstsein ihrer Unschuld, dieser harten
Todesstrafe ohne Murren.
Als der Sterndeuter, ihr Vater, vernahm, dass die Königin als schuldig
verdammt worden sei, einen so grausamen Tod zu erleiden, freute er
sich ungemein, nahm Abschied vom Könige und verließ England ganz
zufrieden. Sobald er heimlich wieder in seinem Palast angelangt war,
erzählte er der Amme ganz ausführlich alles, was ihm begegnet war, und
wie seine Tochter zum Tode verurteilt worden sei.
Bei dieser Nachricht stellte sich zwar die Amme sehr vergnügt,
innerlich aber empfand sie die heftigste Betrübnis, und bewegt von
Mitleid für die arme Unglückliche und hingerissen von inniger Liebe zu
ihr, brach sie eines Tages frühzeitig von Salerno auf und wanderte so
lange Tag und Nacht hindurch, bis sie endlich in England ankam.
Sie stieg die Stufen des königlichen Palastes hinauf und fand den
König, der gerade allgemeine Audienz erteilte, in einem weiten Saal.
Sie warf sich zu seinen Füßen und bat ihn um ein geheimes Gehör, weil
sie ihm Dinge anzuvertrauen habe, welche die Ehre seiner Krone
beträfen.
Der König hob sie auf, nahm sie bei der Hand, entließ alle Übrigen und
blieb ganz allein bei ihr. Da sprach die Amme, welche von dem
Vorgefallenen genau unterrichtet war: „Ihr müsst wissen, gnädigster
Herr, dass Doralise, eure Gemahlin und meine Tochter, (denn wenn ich
sie mich nicht unter diesem unglücklichen Herzen trug, so habe ich sie
doch genährt und erzogen) unschuldig an dem Verbrechen ist, welches
ihr fälschlich zugeschrieben wird und wegen dessen sie zu einem so
grausamen Tode verdammt worden ist. Wenn ihr alles bis aufs Kleinste
gehört und euch überzeugt haben werdet, wer der unmenschliche Mörder
eurer Kinder gewesen ist und was ihn dazu bewogen hat: so bin ich
gewiss, ihr werdet, von Mitleiden gerührt, die arme Königin
augenblicklich von ihren so großen Qualen befreien. Findet ihr aber,
dass ich nur mit einem Worte die Unwahrheit gesagt habe, so will ich
die nämliche Strafe erdulden, welche jetzt die Königin leidet. — Und
damit erzählte sie ihm von Anfang bis zu Ende, wie alles sich
zugetragen hatte.
Als der König den ganzen Hergang vernahm, ward er vollkommen
überzeugt, befahl sogleich, die Königin, welche mehr tot als lebendig
war, aus ihrer Gruft zu ziehen und alles Mögliche für ihre Heilung zu
tun, so dass sie denn auch in kurzer Zeit vollkommen wieder genas.
Hierauf ließ der König durch sein ganzes Reich große Zurüstungen
machen, sammelte ein mächtiges Heer und schickte es gegen Salerno,
welche Stadt nach kurzer Zeit erobert und Thebaldo gefangen, an Händen
und Füßen gebunden, nach England geführt wurde. Da der König sich noch
größere Gewissheit über das begangene Verbrechen verschaffen wollte,
so ließ er ihm den Prozess machen und befahl, ihn auf die Folter zu
spannen; Thebaldo aber gestand sogleich alles ein und am folgenden
Tage wurde er auf einem mit vier Pferden bespannten Karren durch die
ganze Stadt geführt, gevierteilt und sein Fleisch den Hunden
preisgegeben.
So endete der ruchlose, verabscheuungswürdige Thebaldo elend sein
Leben; der König aber und seine Gemahlin Doralise lebten noch viele
Jahre sehr glücklich mit einander und hinterließen zahlreiche Kinder.
Märchen der Welt, nach einer Übersetzung von Dr. Kletke, 1846, mit angepasster Schreibweise.