Märchen Autoren: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Märchen Titel: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Märchen Themen: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Der Rabe - Italienische Märchen
Der Rabe
Es war einmal ein König von Fratta-Umbrosa, namens Milluccio, der ein
so großer Freund der Jagd war, dass er die Notwendigsten
Angelegenheiten des Staates und seines Hauses versäumte, um einem
Hasen oder einem Vogel nachzujagen. Während er nun dieser Neigung sich
gänzlich hingab, führte ihn der Zufall eines Tages in einen Wald,
welcher, von Bäumen dick belaubt, den Strahlen der Sonne den Durchgang
verwehrte. Dort fand er auf einem schönen Marmorstein einen unlängst
getöteten Raben. Als der König den weißen Stein mit dem frischen Blute
des Raben bespritzt sah, stieß er einen tiefen Seufzer aus und rief:
„O Himmel, könnte ich nicht ein Weib bekommen, die so rot und weiß
wär', wie jener Stein, und die so schwarze Haare und Brauen hätte, wie
die Federn dieses Raben!" — Bei diesem Gedanken geriet er so ganz
außer sich, dass er selbst einer Marmorstatue glich.
Weil er sich nun diese Grille in den Kopf gesetzt, so geschah es, dass
er an nichts Anderes dachte, als an jenes Bild, welches in seinem
Herzen wohnte. Wo er auch immer die Augen hinwandte, begegnete ihm
dasselbe, und während er alle anderen Angelegenheiten hinten ansetzte,
hatte er nichts Anderes im Kopf, als jenen Marmorstein, so dass er
sich dermaßen abzehrte, dass er sichtbar dahinschwand.
Auf solche Weise nun wurde jener Stein ein Mühlstein für ihn, der
ihm das Leben zermalmte, ein Porphyr, an dem die Farben seiner Tage
sich zerrieben, ein Feuerstein, durch dessen Funken seine Seele in
Brand geriet, so dass sein Bruder Jennariello, als er ihn so
hinscheiden und abmagern sah, zu ihm sagte: „Lieber Bruder, was hast
du denn, dass du den Schmerz so in deinen Augen und die Verzweiflung
so in deinem Angesichte umher trägst? Was ist dir zugestoßen? sprich
und öffne deinem Bruder dein Herz. Öffne immer deinen Mund, und sag'
mir, was du fühlst, denn du kannst überzeugt sein, dass, wenn ich
kann, ich ein tausendfaches Leben daran setzen würde, um dir zu
helfen."
Milluccio, welcher nur mit Müh' und unter tiefen Seufzern die Worte
hervorstammelte, dankte ihm für seine Liebe und erwiderte: dass er an
seiner Zuneigung zwar nicht zweifle, für sein Übel aber sei kein Kraut
gewachsen, denn es entspränge aus einem Stein, in den er seine Wünsche
ohne Hoffnung auf Frucht gesät hätte, aus einem Stein, von welchem er
auch nicht die geringste Hoffnung hegen könne, einem Stein, der, wenn
er bis auf den Gipfel seiner Wünsche gerollt worden, dann hurtig
wieder hinunterstürze. Endlich nach vielem Bitten sagte er ihm alles
das, was mit seiner Liebe vorgegangen war.
Als der Bruder dies vernommen, tröstete er ihn so gut er konnte und
sagte zu ihm, er solle nur gutes Mutes sein und sich von seiner
traurigen Liebe nicht fortreißen zu lassen, denn er selbst wäre
entschlossen, um seinetwillen die Welt so lange zu durchstreifen, bis
er eine Frau fände, die das Abbild jenes Steines wäre.
Und nachdem er ein großes Schiff mit Waren hatte ausrüsten lassen und
sich als Kaufmann gekleidet, begab er sich auf den Weg nach Venedig,
jenem achten Wunder der Welt, ließ sich dort einen Freibrief erteilen,
um nach der Levante zu reisen, und segelte nach Kairo ab.
Beim Eintritt in die Stadt begegnete Jennariello einem Mann, der einen
sehr schönen Falken trug. Diesen kaufte er sofort für seinen Bruder,
der ein so großer Freund der Jagd war, und als er bald darauf einem
andern Manne begegnete mit einem schönen Rosse, so kaufte er auch
dieses. Sodann begab er sich in ein Wirtshaus, um sich von den
Mühsalen der Seefahrt zu erholen. Den folgenden Morgen aber, als das
Heer der Sterne auf Befehl des obersten Befehlshabers des Lichtes die
Lagerzelte des Himmels abbrach und abzuziehen anfing, begann
Jennariello durch die Stadt umherzugehen, indem er seine Augen wie ein
Luchs überall hinwarf, bald nach dieser, bald nach jener Frau
blickend, ob er vielleicht zufällig ein Gesicht von Fleisch, ähnlich
jenem von Stein, fände.
Während er nun hie- und dorthin ging, und die Augen umher warf wie ein
falscher Spieler, welcher fürchtet, ertappt zu werden, so begegnete er
einem Bettler, welcher eine ganze Apotheke von Pflastern auf dem Leibe
trug, und der ihn anredete: „Mein lieber Mann, was fehlt euch denn,
ihr seid ja so niedergeschlagen?"
Wenn ich dir auch sagte, wie es mir geht“, erwiderte Jennariello“, so
würde mir das wenig genug helfen."
„Nicht so voreilig, mein guter Freund“, versetzte der Bettler, „man
kann nicht wissen, was geschieht. Hätte Darius seine Verlegenheit
nicht einem Stallknecht erzählt, so wär' er nicht König von Persien
geworden; es ist daher nicht so was Törichtes, dass du einem armen
Bettler deine Sorge mitteilst, denn es ist kein Span so dünn, dass er
nicht zum Zahnstocher dienen könnte."
Als Jennariello diesen Armen so klug und verständig reden hörte,
teilte er ihm die Veranlassung mit, die ihn in dieses Land gebracht
hatte, worauf Jener erwiderte: „Jetzt sieh', mein Sohn, wie man Nichts
gering schätzen darf, denn wenn ich auch gleich nur Kehricht wäre, so
könnte ich doch den Garten deiner Hoffnungen düngen. Jetzt höre zu:
Ich werde unter dem Vormunde, Almosen zu fordern, an die Tür eines
schönen Mädchens, der Tochter eines Zauberers, klopfen: mach' deine
Augen gehörig auf, betrachte sie genau, dann wirst du das Bild
derjenigen, welche dein Bruder wünscht, erblicken."
Mit diesen Worten klopfte er an die Tür eines nicht weit entfernten
Hauses, worauf Liviella erschien und dem Bettler ein Stück Brot
zuwarf. Jennariello zweifelte nicht, sobald er sie wahrnahm, das
ersehnte Bild seines Bruders gefunden zu haben und nachdem er dem
Bettler ein gutes Almofen gereicht, schickte er er ihn fort, ging in
ein Wirtshaus und verkleidete sich als Tabulettkrämer. Er trug in
zweien Kästchen die schönsten Sachen von der Welt mit sich umher und
ging, seine Waren ausrufend, so lange vor dem Hause der Liviella auf
und ab, bis sie ihn herbeiwinkte und alle die schönen Sachen, Tücher,
Bänder, Nadeln, Fläschchen, Spitzen, Kanten, die er bei sich trug,
beäugelte. Zuletzt sagte sie zu ihm: er möge ihr jetzt noch etwas
anderes Schönes vorzeigen, worauf Jennariello erwiderte: „In diesem
Kasten trage ich nur wertlose, unbedeutende Dinge, wenn ihr aber in
mein Schiff kommen wollt, so werde ich euch die prächtigsten Sachen
von der Welt zeigen, denn dort hab' ich welche von seltner Kostbarkeit
und in großer Auswahl."
Liviella, der es an Neugierde nicht fehlte, sagte zu ihm: „Wahrhaftig,
wenn mein Vater jetzt nicht auswär', möchte ich wohl mit dir
mitgehen."
„Desto besser“, erwiderte Jennariello, „komm nur mit, denn vielleicht
würde dein Vater dir diese Freude nicht machen; ich verspreche dir,
dich gar wunderbare Dinge sehen zu lassen."
Liviella, welche allzu große Luft empfand, diese Wunder zu sehen, rief
eine Nachbarin herbei, die sie begleiten sollte, und begab sich auf
das Schiff. Jennariello aber, während sie damit beschäftigt war, die
schönen Dinge alle anzustaunen, ließ heimlich die Anker lichten und
die Segel aufziehen, so dass, bevor Liviella die Augen von den Waren
abwandte, er sich vom Lande entfernt und schon manche Meile
zurückgelegt hatte.
Als sie dies gewahr wurde, fing sie an, in Klagen und lauten Jammer
auszubrechen; nachdem ihr jedoch Jennariello mitgeteilt hatte, wohin
er sie sichre und welches Glück ihrer warte, und außerdem noch ihr die
Schönheit und Tugenden seines Bruders lebhaft schilderte, sowie die
Liebe, mit welcher er sie empfangen würde, brachte er es so weit, dass
sie sich beruhigte und sogar den Wind bat, sie rasch dorthin zu
bringen, wo sie das Vorbild des ihr von Jennariello entworfenen
Gemäldes sehen sollte.
Während sie so fröhlich dahinschifften, vernahmen sie plötzlich, wie
unter dem Schiffe die Wellen anfingen dumpf zu rauschen, und obwohl
sie nur zur Zeit noch leise sprachen, so verstand doch der
Schiffspatron, was sie meinten, und rief allen Leuten am Bord zu, sich
fertig zu halten, weil ihnen ein heftiger Sturm drohe. Bei diesen
Worten fing auch schon der Wind zu pfeifen an und plötzlich war der
Himmel mit Wolken bedeckt und das Meer voll hoher Wogen, und weil die
Wellen neugierig waren, zu wissen, was im Schiffe vorgehe, so stiegen
sie uneingeladen in dasselbe hinein. Während nun alle Matrosen die
Hände voll zu tun hatten, und der eine auf das Steuerruder, der andere
auf die Segel und der dritte auf die Taue achtete, stieg Jennariello
auf den Mastkorb, um mit einem Fernglas weithin zu sehen, ob er Land
entdecke, um dort Zuflucht zu suchen. Da plötzlich, während er mit
einer halben Elle Fernrohr hundert Meilen Entfernung ausfindig machte,
sah er einen Täuberich und eine Taube heranfliegen, welche sich auf
einer Segelstange niedersetzten, worauf der Täuberich ausrief: „Girr,
Girr!"
„Was hast du denn, mein liebes Männchen“, fragte ihn die Taube,
worüber beklagst du dich?" Und der Täuberich antwortete: „Dieser
unglückliche Prinz hat einen Falken gekauft, welcher, sobald er in die
Hand des Bruders gekommen ist, diesem die Augen auskratzen wird, und
wer ihm denselben nicht bringt oder ihn davon benachrichtigt, der wird
in einen Marmorstein verwandelt werden."
Nachdem er dies gesagt, fing er von Neuem an: „Girr, girr!" Und das
Weibchen fragte wiederum: „Warum bist du noch immer traurig?“, und der
Täuberich erwiderte: „Er hat auch ein Pferd gekauft, und wenn der
Bruder es zum ersten Mal reiten wird, so wird er den Hals brechen, und
wer ihm dasselbe nicht bringt oder ihn davon benachrichtigt, wird in
einen Marmorstein verwandelt werden." Und darauf fing er wieder an mit
seinem Girr, Girr!
„O weh!“, begann von Neuem das Weibchen, „so viele Girr, Girr, was
gibt es denn noch?"
Und der Täuberich fuhr fort und sagte: „Der Prinz bringt seinem Bruder
auch eine schöne Frau, aber in der Hochzeitnacht werden sie Beide von
einem hässlichen Drachen verschlungen werden, aber wer sie ihm nicht
bringt, oder ihn davon benachrichtigt, wird in einen Marmorstein
verwandelt werden."
Nach diesen Worten hörte der Sturm auf, das Meer beruhigte
sich und der Wind legte sich. Aber ein weit größerer Sturm begann in
der Brust des Jennariello wegen dessen, was er vernommen hatte, und
mehr als viermal wollte er alle diese Dinge ins Meer werfen, um seinem
Bruder nicht selbst das Verderben zuzuführen; andrerseits aber dachte
er an sich selbst, indem er befürchtete, wenn er sie nicht dem Bruder
überbrächte, oder ihn davon benachrichtige, in einen Stein verwandelt
zu werden. Daher beschloss er, mehr auf das Hemde als auf den Rock zu
achten.
Als er in den Hafen von Fratta-Umbrosa eingelaufen war, fand er den
Bruder an der Meeresküste, welcher das Schiff hatte zurückkehren sehen
und ihn mit großer Freude erwartete. Da der König sah, dass
Jennariello ihm diejenige brachte, die er in seinem Herzen umhertrug,
war er so sehr erfreut, dass die große Fülle der Freude ihm fast das
Leben genommen hätte. Hieraus umarmte er seinen Bruder und sagte zu
ihm: „Was ist das für ein Falke, den du da in deiner Hand trägst?"
Jennariello entgegnete: „Ich habe ihn für dich gekauft."
„Wohl kann man sehen“, antwortete Milluccio, „dass du mich liebst, da
du alle meine Launen befriedigest, und sicherlich, wenn du mir einen
Schatz gebracht hättest, würde er mir nicht mehr Freude machen, als
dieser Falke. Bei diesen Worten wollte er ihn in die Hand nehmen,
Jennariello aber schnitt mit einem Messer, welches er an seiner Seite
trug, dem Falken rasch den Hals ab. Der König, hierüber ganz erstaunt,
glaubte, sein Bruder sei wahnsinnig geworden. Um aber die Freude der
Rückkehr nicht zu stören, verlor er kein Wort.
Als er hierauf das Pferd sah und fragte, wem es gehöre, und vernahm,
dass es für ihn bestimmt sei, bekam er Luft, es zu reiten; allein
während er sich den Steigbügel halten ließ, schnitt Jennariello dem
Pferde rasch die Beine durch.
Dies fuhr dem König gewaltig in die Nase, denn er meinte nun gewiss zu
sein, dass Jennariello ihm dies zum Trotz tue, aber auch diesmal
verbarg er seinen Unwillen, um der Jungfrau keinen Anstoß zu geben, an
deren Lieblichkeit er sich gar nicht satt sehen konnte.
Als sie hierauf an den königlichen Palast gekommen waren, lud er alle
vornehmen Frauen der Stadt zu einem prächtigen Feste ein, woselbst es
auf das Herrlichste und Köstlichste herging und nach dessen Beendigung
die Neuvermählten sich zur Ruh' begaben. Jennariello, der nichts
Anderes im Kopfe hatte, als wie er seinem Bruder das Leben retten
könne, verbarg sich hinter dem Bette der Braut und paßte wohl auf, bis
er den Drachen kommen sähe.
Siehe, da erschien um Mitternacht in jenem Zimmer ein entsetzlicher
Drache, welcher Flammen aus den Augen sprühte und Rauch aus seinem
Rachen ausstieß. Als Jennariello ihn kommen sah, fing er an, mit einem
Damaszenersäbel, den er bereit hielt, rechts und links um sich zu
hauen und versetzte unter anderem einem Bettpfosten einen so
gewaltigen Hieb, dass er ihn mitten aus einander schlug, bei welchem
Lärm der Bruder aufwachte und der Drache verschwand.
Als Milluccio den bloßen Säbel in der Hand des Jennariello und den
Bettpfosten durchgehauen sah, fing er an zu rufen: „Heda, Leute, zu
Hülfe, zu Hülse! dieser Verräter von Bruder ist gekommen, mich zu
töten!"
Auf dieses Geschrei liefen eine Menge Leute herbei, die nur im
Vorzimmer schliefen, banden Jennariello und führten ihn auf Befehl des
Königs ins Gefängnis. Sobald der Morgen heranbrach, berief dieser
seinen Rat und erzählte das Vorgefallene. Indem man nun seinen übeln
Willen, den Jennariello bei der Tötung des Falken und des Pferdes an
den Tag gelegt, gleichfalls in Erwägung zog, verurteilten sie ihn zum
Tode und die Bitten der Liviella vermochten nicht, das Herz des Königs
zu erweichen, welcher vielmehr sagte: „Du liebst mich nicht, weil du
meinen Bruder höher achtest, als mein Leben. Du hast mit deinen
eigenen Augen diesen Mörder mit dem Säbel in der Hand gesehen, und
wär' es nach seinem Willen gegangen, so war' ich in dieser Stunde
tot." Mit diesen Worten befahl er der Gerechtigkeit ihren Lauf zu
lassen.
Als Jennariello dieses Urteil sich vorlesen hörte und sich durch seine
Lust, Gutes zu tun, in so viel Unglück gestürzt sah, wusste er nicht,
was er tun solle, denn wenn er nicht sprach, so war es schlimm, und
wenn er sprach, noch schlimmer. Wenn er schwieg, verlor er den Hals
unter einem Eisen, und wenn er redete, so beendigte er seine Tage als
Stein. Endlich nach verschiedenem Hin- und Hersinnen beschloss er, die
Sache seinem Bruder mitzuteilen, und da er doch jedenfalls sterben
musste, hielt er es für besser, den Bruder von der Wahrheit zu
unterrichten und sein Leben als Unschuldiger zu beendigen, als die
Wahrheit verborgen zu halten und als Verräter die Welt zu verlassen.
Er ließ daher seinem Bruder wissen, dass er mit ihm von etwas
Wichtigem reden wolle, worauf Jener ihn vorführen ließ und Jennariello
ihm eine lange Rede über die Liebe hielt, die er ihm stets an den Tag
gelegt. Er gedachte sodann des Betruges, durch welchen er ihm Liviella
verschafft, und erzählte, was er von den Tauben in Betreff des Falken
gehört habe, den er, um nicht in Marmor verwandelt zu werden und die
Augen seines Bruders zu schützen, getötet hatte.
Bei diesen Worten fühlte er, wie die Beine ihm erstarrten und sich in
Marmor verwandelten, und als er ebenso den Grund entdeckte, weshalb er
jenes Pferd getötet, verwandelte er sich sichtbar auf eine jammervolle
Weise bis an die Hüften in Stein; zuletzt aber, da er den Vorfall mit
dem Drachen offenbarte, verwandelte er sich ganz und gar in Marmor, so
dass er in der Mitte des Saales dastand wie eine Statue, worauf der
König vor Entsetzen außer sich geriet, das unüberlegte Urteil, das er
über seinen so guten und so liebevollen Bruder gefällt, verwünschte
und ein ganzes Jahr lang trostlos einherging, und immer, wenn er daran
dachte, einen Tränenstrom vergoss.
Inzwischen gebar Liviella Zwillinge, welche wunderschön waren. Als nun
die Königin nach einigen Monaten auf dem Felde spazieren ging und der
Vater mit den beiden Kindern sich in dem Saale befand, die Augen voll
Tränen über feine Torheit, die ihm jenen Trefflichsten der Menschen
entrissen hatte, siehe, da trat ein alter Mann in das Zimmer, welchem
das Haar die Schultern bedeckte und der Bart bis auf die Brust
hinunterhing. Er verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor dem Könige und
fragte ihn, was er ihm wohl bezahlen würde, wenn er diesem Bruder
seine frühere Gestalt wiedergäbe; worauf der König erwiderte: „Ich
gebe mein Reich darum."
„Das ist keine Sache“, versetzte der Greis, „wobei es auf Reichtümer
ankommt, sondern da es sich um Leben handelt, so muss mit dem Leben
bezahlt werden.«
Und der König, sowohl aus Liebe für Jennariello, als auch, weil die
Schuld des Unglücks sein war, antwortete: „Glaube mir, Freund, ich
würde mein Leben um das seinige geben und wenn er nur aus dem Steine
herauskäme, wollte ich selber gern zum Stein werden."
Als der Greis dies hörte, sagte er: „Ohne dass du dein Leben daran
wendest, da es so viel Mühe kostet, eh' ein Mensch heranwächst, würde
das Blut dieser deiner Kinder, auf die Statue gespritzt, genügen, um
sie zu beleben."
Der König erwiderte bei diesen Worten: „Kinder kann ich auch wohl noch
andere bekommen, einen Bruder aber wie diesen nimmer wieder." Und
damit brachte er vor dem Götzen eines Steines ein bejammernswertes
Opfer; die Statue aber, mit dem Blute bespritzt, wurde plötzlich
lebendig. Die beiden Brüder umarmten sich hierauf und freuten sich
unsäglich; nachdem aber der König jene armen Geschöpfe in einen Sarg
hatte legen lassen, um sie mit gebührender Ehre zu bestatten, kam
plötzlich die Mutter nach Hause. Der König hieß Jennariello sich
verbergen und fragte seine Frau: „Was gäbest du, mein Herz, wenn mein
Bruder lebendig würde?"
«Ich gäbe dieses ganze Reich“, erwiderte Liviella.
„Gäbest du wohl das Blut deiner Kinder?« fuhr der König fort.
„Das nicht“, erwiderte die Königin, „denn das hieße mir mit eigenen
Händen das Herz aus dem Leibe reißen."
„Weh' mir!“, sagte hierauf der König, „um meinen Bruder wieder
lebendig zu machen, hab' ich die Kinder getötet, denn dies war der
Preis des Lebens Jennariello's."
Mit diesen Worten wies er ihr die Kinder im Sarge, bei welchem
kläglichen Schauspiel die Mutter wie wahnsinnig ausrief: „O meine
Kinder, o ihr Stützen meines Lebens, ihr Quellen meines Blutes, wer
hat den Tag meines Lebens so sehr verdunkelt, wer hat die Pulsader
meiner Lebenskrast durchschnitten? wehe mir, liebe Kinder, ihr
verlornen Hoffnungen meines Lebens, ihr vergifteten Süßigkeiten meines
Daseins, ihr seid vom Eisen durchbohrt, ich von Schmerz zerrissen, ihr
im Blute erstickt, ich in Tränen ertränkt! Um einem Oheim das Leben zu
geben, habt ihr die Mutter getötet, o meine Kinder, meine Kinder,
warum antwortet ihr nicht eurer Mutter, die jetzt ihr Blut durch die
Augen vergießt! Da aber jetzt der Quell meiner Freuden vertrocknet
ist, will auch ich nun nicht länger mehr leben!"
Mit diesen Worten eilte sie an das Fenster, um sich hinabzustürzen. In
dem nämlichen Augenblick aber schwebte ihr Vater auf einer Wolke durch
das Fenster in den Saal, und sagte zu ihr: „Halt ein, Liviella, denn
jetzt bin ich versöhnt, nachdem ich mich auf dreifache Weise gerächt,
an Jennariello, der in mein Haus kam, um mir die Tochter zu entführen,
dadurch, dass er so lange Monate in eine Marmorstatue verwandelt
dastand; an dir, weil du ohne Rücksicht auf deinen Vater dich zu
Schiff begabst und ihm entflohst, dadurch, dass du deine beiden Kinder
von dem eigenen Vater getötet sahst, und an dem Könige für die Grille,
sich eine Frau von so weit her kommen zu lassen, dadurch, dass er
seinen eigenen Bruder verurteilt und seine Kinder getötet hat. Aber
weil ich euch nur bestrafen, aber nicht habe martern wollen, will ich,
dass der ganze Wermut sich in Zucker verwandle, und darum gehe hin und
hole dir deine Kinder, welche jetzt schöner sind, als je. Und du,
Milluccio, umarme mich, denn ich betrachte dich von nun an als meinen
Sohn, und eben so verzeihe ich dem Jennariello seine Vergehungen, da
er alles eines so würdigen Bruders willen getan hat."
Bei diesen Worten kamen die Kinder herbei, die der Großvater nicht
genug betrachten und küssen konnte, und an allen diesen Freuden nahm
nun auch Jennariello Teil, nachdem er so viele Leiden erduldet hatte,
die er nimmer vergaß und die aufs Neue betätigten, wie vorsichtig der
Mensch sein solle, damit er nicht in einen Graben falle, da alles
menschliche Vorherbedenken nur schief und irrig ist.
Märchen der Welt, nach einer Übersetzung von Dr. Kletke, 1846, mit angepasster Schreibweise.