Märchen Autoren: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Märchen Titel: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Märchen Themen: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Der Waldmann - Italienische Märchen
Der Waldmann
Sizilien ist ein schönes, fruchtbares Land, berühmt wegen seines
Altertums, und mit vielen herrlichen Städten und Schlössern geziert.
Hier herrschte vor Zeiten Filippo Maria, ein guter und weiser König,
dessen schöne Gemahlin ihm einen einzigen Sohn geboren hatte, dem man
den Namen Guerrino gab.
Der König ergötzte sich sehr an der Jagd, denn er war ein starker,
kräftiger Mann, dem solch eine Beschäftigung zusagte. Eines Tages war
er ebenfalls mit vielen Rittern und Jägern ausgezogen, da sah er aus
dem Dickicht einen riesenmäßigen Waldmenschen hervorspringen, von
furchtbarem Ansehen und ungeheuren Kräften.
Der König, von zwei Rittern begleitet, ging auf ihn los, griff ihn
mutig an und nach einem hartnäckigen Kampf überwand er ihn, ließ ihn
binden und führte ihn mit sich nach seinem Palast. Darauf suchte er
ein festes, wohlverwahrtes Behältnis aus, schloss ihn hinein und
befahl, dass man ihn aufmerksam bewachen solle. Ja er wollte sogar die
Schlüssel des Gefängnisses keinem Andern als der Königin anvertrauen,
so viel war ihm an seinem Waldmenschen gelegen; und täglich machte er
sich den Zeitvertreib, ihn zu besuchen.
Nach einigen Tagen ging der König wieder auf die Jagd und empfahl
vorher der Königin, wohl auf die Schlüssel Acht zu haben. In der
Abwesenheit des Vaters bekam der Knabe Guerrino Lust den wilden Mann
zu sehen, und ging mit seinem Bogen, woran er einen besondern Gefallen
hatte, und einem Pfeil in der Hand an das Gitter des Gefängnisses.
Sobald ihn das Ungeheuer erblickte, kam es heran und fing an, ganz
zahm mit ihm zu sprechen; und während es so durch das Gitter mit ihm
sprach und ihm liebkoste, wusste es ihm auf eine geschickte Weise den
reichen, goldnen Pfeil aus der Hand zu reißen. Darüber weinte der
Knabe bitterlich, konnte sich gar nicht zufrieden geben und wollte
durchaus seinen Pfeil wieder haben. Der Waldmensch aber sprach: „Wenn
du mir mein Gefängnis öffnen und mich befreien willst, gebe ich dir
deinen Pfeil zurück, sonst bekommst du ihn nimmermehr." —
„Wie kann ich dich denn herauslassen“, sagte der Knabe: „ich weiß
ja nicht, wie ich es machen soll." —
„Wenn du Lust hast, mich aus diesem Käsig zu befreien“, antwortete der
Waldmensch: „will ich dir wohl das Mittel dazu angeben." —
„Was ist das für ein Mittel“, fragte Guerrino.
„Geh zur Königin, deiner Mutter, und wenn du sie in der Mittagszeit
schlummern siehst, suche behutsam unter ihrem Kopfkissen nach,
entwende ihr leise, dass sie dich nicht hört, die Schlüssel meines
Gefängnisses, bringe sie hierher und öffne; sobald du geöffnet hast,
gebe ich dir deinen Pfeil zurück. Und vielleicht werde ich dir diesen
Dienst einst vergelten können."
Aus großer Begier, seinen goldnen Pfeil wieder zu haben, tat Guerrino
alles, was ihm der Waldmann gesagt hatte, fand die Schlüssel, brachte
sie ihm und sprach: „Hier ist, was du verlangst. Und wenn ich
aufgeschlossen habe, so lauf, so weit dich deine Füße tragen, denn
bekäme mein Vater, der ein geschickter Jäger ist, dich wieder in seine
Gewalt, ganz gewiss ließe er dich töten." —
„Sei unbesorgt, mein Sohn“, sagte der Waldmann, „sobald ich mich in
Freiheit sehe, gebe ich dir deinen Pfeil zurück und fliehe so weit von
hier, dass weder dein Vater noch ein Anderer mich jemals antreffen
sollen."
Guerrino, der schon Manneskraft besaß, bemühte sich so lange, bis er
das Gitter geöffnet hatte; der Waldmann gab ihm den Pfeil zurück,
sagte ihm Dank für seine Befreiung und eilte davon.
Es war dieser Waldmensch früher ein schöner Jüngling gewesen, der aus
Verzweiflung, sich von einer heiß geliebten Jungfrau verschmäht zu
sehen, der Liebe und den Freuden der Geselligkeit entsagt hatte, um in
dunklen Wäldern unter den Tieren zu leben, sich von Gras und Kräutern
zu nähren und mit dem Wasser der Quelle seinen Durst zu stillen. Von
dieser Lebensweise hatte der Unglückliche eine dicke, harte Haut und
einen langen, struppigen Bart bekommen, und weil er nichts als Kräuter
aß, waren ihm Haar, Bart und Haut so grün geworden, dass er einen
wahrhaft furchtbaren Anblick gewährte.
Als die Königin erwachte, steckte sie die Hand unter das Kopfkissen,
um die Schlüssel hervorzunehmen, die sie stets mit sich führte. Wie
bestürzt war sie aber, sie nicht zu finden; sie kehrte das ganze Bett
danach um, doch all ihr Suchen war vergebens. Gleich einer Rasenden
lief sie zum Gefängnis, und da sie es offen und den Waldmenschen nicht
darin fand, durchstrich sie den Palast nach allen Seiten und befragte
jeden, der ihr aufstieß, wer die Verwegenheit gehabt hätte, ihr
heimlich die Schlüssel des Gefängnisses wegzunehmen. Alle beteuerten,
nichts davon zu wissen.
Da traf Guerrino auf die Mutter, sah sie so entrüstet und sprach:
„Mutter, beschuldigt keinen wegen des Vorgefallenen, wenn Jemand
Strafe verdient, muss ich sie leiden, denn ich habe das Gefängnis
geöffnet."
Auf diese Nachricht war die Königin in noch weit größerer Roth, als
zuvor. Sie befürchtete, wenn der König von der Jagd nach Hause käme,
würde er den Sohn in der Wut töten lassen; denn er hatte ihr die
Schlüssel empfohlen, als hinge sein ganzes Wohl daran.
Um nun einen kleinen Fehler gut zu machen, beging die Königin einen
weit größeren. Ohne Aufschub berief sie zwei treue Diener, empfahl
ihnen aufs Dringendste, Sorge für ihren Sohn zu tragen, versah diesen
mit einer Menge Goldes, vielen Kostbarkeiten und schönen Pferden und
sandte ihn, von den Beiden begleitet, auf gut Glück in die Welt.
Guerrino hatte seine Mutter noch nicht lange verlassen, da kam der
König von der Jagd zurück und ging, sobald er vom Pferde gestiegen,
zum Gefängnisgitter, um seinen Waldmann zu besuchen. Wie wütete er
aber, die Tür offen und diesen entflohen zu sehen. Er wollte den
töten, der sich solch eines Vergehens schuldig gemacht, eilte zur
Königin, die er traurig in ihrem Zimmer fand, und fragte sie, wer der
Frevler sei, der es gewagt habe, das Gefängnis zu öffnen.
„O zürne nicht, Herr“, sprach die Königin mit zitternder Stimme:
„Guerrino hat dieses Unheil verübt, er selbst hat es mir gestanden." —
Hierauf teilte sie dem König, zu seinem nicht geringen Verdruss, alles
mit, was ihr der Sohn erzählt hatte. Sie setzte hinzu, sie habe aus
Furcht, er werde ihn töten, den Sohn in ferne Länder gesandt,
begleitet von zwei treuen Dienern, und mit Geld und Kleinodien
reichlich versehen.
Bei dieser Nachricht, die Leid zum Leide fügte, geriet der König ganz
außer sich, und hätten ihn die Hofleute nicht zurückgehalten, er würde
seine Frau in jenem Augenblick umgebracht haben. Als er wieder zu sich
selbst gekommen und ein wenig besänftigt war, sprach er zur Königin:
„Wie konnte es dir einfallen, o Frau, unfern Sohn nach unbekannten
Ländern zu schicken? Glaubst du denn, dass mir mehr an diesem Wilden
gelegen sei, als an meinem eigenen Fleisch und Blut?" —
Und alsbald sandte er viele Reiter in alle vier Weltgegenden aus mit
dem Befehl, nichts unversucht zu lassen, um ihn wieder zu finden. Ihre
Bemühungen waren aber fruchtlos, denn Guerrino und seine Diener
schlugen so verborgene Wege ein, dass Niemand ihnen auf die Spur
kommen konnte.
So hatte nun unser Guerrino manchen Berg und manches Tal durchstreift,
sich bald hier, bald dort aufgehalten, und war schön und blühend wie
eine Rosenknospe zu dem Alter von sechzehn Jahren gelangt. Da gerieten
seine Diener plötzlich auf den teuflischen Gedanken, ihn zu töten und
seine Schätze unter sich zu teilen; sie kamen aber nicht zur
Ausführung, weil sie niemals einig mit einander werden konnten.
Eines Tages begegnete ihnen auf ihrer Wanderschaft ein junger, schöner
Mann auf einem herrlichen, reich geschmückten Pferde, begrüßte den
Guerrino und sprach: „Wenn es euch, edler Ritter, nicht unangenehm
ist, so erlaubt mir, euch zu begleiten." —
„Ein Anstand, wie der eurige“, erwiderte Guerrino, „gestattet nicht,
eure Gesellschaft auszuschlagen. Ich weiß euch dies Anerbieten Dank
und bitte euch, mit uns zu kommen. Wir sind hier fremd und kennen die
Wege nicht, ihr werdet die Güte haben, sie uns zu zeigen, und während
des Reitens können wir einander etwas von unseren Begebenheiten
erzählen, um uns die Reise zu verkürzen."
Der fremde Ritter war aber derselbe Waldmensch, den Guerrino aus der
Gefangenschaft seines Vaters befreit hatte. Diesen, der lange unstet
umhergeirrt war, hatte zufällig eine schöne Fee erblickt und über sein
ungestaltes, wunderliches Ansehen so herzlich gelacht, dass ein
Geschwür am Herzen, an dem sie lange gelitten, plötzlich zersprang und
sie sich von diesem Augenblick an völlig geheilt fühlte. Die Fee
wollte nicht undankbar gegen eine solche Wohltat scheinen, sie sprach
zu ihm: „O du, der du meine Genesung bewirktest, werde aus dem
hässlichen Ungeheuer, das du jetzt bist, zum schönsten Jüngling, den
die Welt gesehen hat. Und alle Macht und Gewalt, mit der die Natur
mich begabte, teile ich dir mit, dass du nach deinem Willen über alles
walten und schalten mögest." — Nach diesen Worten beschenkte sie ihn
noch mit einem Zauberross und entließ ihn.
Er reiste jetzt mit Guerrino, den er wohl kannte, aber nicht von ihm
erkannt ward, immer weiter und weiter, bis sie endlich nach Irland
kamen, welches damals König Zifroi beherrschte. Dieser König hatte
zwei Töchter, Potenzia und Eleutheria genannt, von edlen Sitten, hohem
Anstand und schön wie die Liebesgöttin, und so teuer waren sie dem
Vater, dass er nur durch seiner Kinder Augen sah.
Als Guerrino mit dem unbekannten Ritter und den beiden Dienern in
Irland angekommen war, nahm er eine Wohnung bei einem Bäcker, dem
luftigsten Mann im ganzen Lande, von dem sie aufs Beste bewirtet
wurden. Am andern Tage tat der Unbekannte, als wollte er abreisen,
nahm Abschied von Guerrino und sagte ihm vielen Dank für seine
Gesellschaft. Allein Guerrino, der ihn lieb gewonnen hatte, wollte ihn
durchaus nicht reisen lassen und bat ihn so lange, bis er einwilligte,
bei ihm zu bleiben.
In Irland hielten sich in jener Zeit zwei furchtbare Tiere auf, ein
wilder Hengst und eine wilde Stute, die alles in Schrecken setzten und
nicht allein die Felder gänzlich verwüsteten, sondern auch Tiere und
Menschen aufs Grausamste zerrissen. Das Land war durch diese Bestien
in einen so traurigen Zustand versetzt worden, dass kein Mensch mehr
dort wohnen wollte. Die Bauern verließen ihre Hütten und Felder und
zogen in ferne Gegenden, und Niemand war stark oder mutig genug, sich
den Verwüstern zu widersetzen.
Der König war sehr betrübt über ein solches Unglück; er sah sein Land
wie ausgestorben daliegen, weder Lebensmittel, noch Vieh, noch
Menschen waren mehr darin zu finden, und er wusste doch kein Mittel,
dem Übel abzuhelfen. Dies brachte Guerrinos Diener auf den Gedanken,
sie könnten vielleicht jetzt den Tod ihres Herrn ungestraft bewirken
und sich dann seiner Schätze bemächtigen. Denn früher waren sie durch
ihre eigene Zwietracht und durch die Ankunft des fremden Ritters an
ihrem bösen Vorhaben gehindert worden.
In dieser Absicht nahmen sie sich vor, dem Wirt zu erzählen, welch ein
mutiger, tapferer Jüngling ihr Herr sei und wie oft er sich gegen sie
gerühmt, er könne jenen wütenden Hengst töten, ohne dass Jemand dabei
zu Schaden käme. Dieser Bericht, dachten sie, wird schnell zu den
Ohren des Königs gelangen, der eifrigst wünscht, die Tiere umgebracht
und sein Land befreit zu sehen; er wird alsbald Guerrino rufen lassen
und ihn über die Art befragen, dies zu bewerkstelligen, und weiß
dieser dann nicht zu antworten, so lässt er ihn töten und seine
Schätze bleiben uns.
Wie gesagt, so getan; sie banden dem Wirth ihre Lüge auf, dieser war
außer sich vor Freuden darüber, eilte zum Palast, beugte ein Knie vor
dem König und sprach: „Großer König, wisst, in meinem Hause wohnt ein
schöner, fremder Ritter, Guerrino mit Namen. Von dem haben mir seine
Diener erzählt, als ich mit ihnen über dieses und jenes sprach, ihr
Herr stehe in großem Ruf wegen seiner Tapferkeit und wisse die Waffen
zu führen, wie kein Anderer in unfern Tagen. Und oft soll er sich
gerühmt haben, ihm sei es ein Leichtes, das wilde Pferd zu besiegen,
welches euer Reich verwüstet." —
Auf diese willkommene Nachricht befahl Zifroi ihm sogleich, er solle
den Ritter zu ihm schicken. Der Wirth kehrte schnell nach Hause zurück
und sagte zu Guerrino, er solle gleich zum Palast kommen, der König
wünsche ihn allein zu sprechen.
Guerrino zögerte nicht, dieser Aufforderung Folge zu leisten; er trat
vor den König und fragte, nachdem er ihm die schuldige Ehrerbietung
bezeigt, was seine Majestät befehle.
„Ich habe dich rufen lassen, Guerrino“, erwiderte ihm Zifroi! „weil
ich vernommen, du seist der tapferste Ritter aus der Welt und so
gewaltig, dass du dich getrauest, jenen wilden Hengst, der mein Land
zerstört, zu bezwingen, ohne Gefahr für dich oder andere. Hoffst du
nun, in einem so ruhmvollen Kampf zu siegen und willst ihn
unternehmen, so gelobe ich bei diesem meinem Haupte, dich dergestalt
zu belohnen, dass du dein ganzes Leben hindurch glücklich sein
sollst." —
Über dieses Anmuten erstaunte Guerrino nicht wenig und leugnete, je
dergleichen Reden geführt zu haben, wie man sie ihm nachsagte.
Der König war höchst unwillig über seine Antwort und sagte zornig:
„Ich befehle dir, Guerrino, diesen Kamps zu bestehen, es kostet dir
das Leben, widerstrebst du meinem Willen."
Betrübt kehrte der Jüngling in seine Wohnung zurück und wagte nicht,
Jemanden seine Noch zu klagen. Als der Unbekannte ihn so traurig sah,
wie er nie zu sein pflegte, fragte er ihn teilnehmend um die Ursache
seines Kummers. Guerrino konnte der brüderlichen Freundschaft, die
zwischen ihnen herrschte, diese liebevolle Frage nicht unbeantwortet
lassen und erzählte, was ihm begegnet war.
„Sei gutes Muts“, sagte der andere: „ich werde dir den Weg zeigen,
nicht nur dein Leben zu retten, sondern auch in diesem Kampf zu siegen
und des Königs Begehren zu erfüllen. Kehre zu ihm zurück und sag ihm,
er solle dir bei einem tüchtigen Hufschmied vier Hufeisen machen
lassen, rund herum um zwei Zoll länger, als die gewöhnlichen, mit
gezacktem Rande und zwei langen scharfen Haken hinten. Damit will ich
mein Ross beschlagen lassen, welches gefeit ist, und das Übrige soll
schon gehen." —
Guerrino begab sich also zum König und sprach, wie sein Freund ihm
geraten hatte. Da musste ungesäumt ein geschickter Hufschmied kommen
und erhielt den Befehl, er solle für den fremden Ritter arbeiten,
völlig nach dessen Vorschrift. Guerrino ging darauf mit dem Meister zu
seiner Werkstatt und bestellte die vier Hufeisen auf oben besagte
Weise. Der Meister verlachte ihn aber als einen Narren und wollte sie
nicht machen, denn dergleichen waren ihm in seinem Leben noch nicht
vorgekommen. Er musste sich aber am Ende dennoch dazu bequemen, denn
Guerrino beklagte sich beim König über ihn, und dieser befahl, der
Meister solle entweder die Hufeisen machen oder an Guerrinos Statt mit
dem Untier kämpfen.
Nachdem die Eisen fertig und das Pferd beschlagen und gesattelt war,
sprach der Unbekannte zu Guerrino: „Besteig nun mein Ross, zieh
unbesorgt aus, und wenn du das Wiehern des wilden Pferdes hörst, steig
hinunter von dem deinigen, nimm ihm Sattel und Zaumzeug ab, und lass
es in Freiheit. Du aber erklettre einen hohen Baum und warte dort das
Ende ab." Guerrino, von seinem Gefährten wohl unterrichtet, wie er
sich zu verhalten habe, nahm Abschied und ritt vergnügt davon.
Durch die ganze Stadt war schon das Gerücht erschollen, ein Jüngling
habe unternommen, den wilden Hengst zu bekämpfen und wolle ihn
gefangen dem Könige überbringen. Deshalb liefen Männer und Weiber an
die Fenster, ihn vorbeikommen zu sehen, und alle wurden von seiner
Schönheit und Jugend und seinem edlen Wesen so gerührt, dass sie sich
der Tränen nicht erwehren konnten und bedauernd sprachen: „Der Arme,
wie er sich freiwillig in den Tod stürzt! Wahrlich, es ist eine rechte
Sünde, dass er auf eine so jämmerliche Weise um sein Leben kommen
soll!" —
Allein Guerrino ritt heitern Sinnes und männlichen Mutes weiter, ohne
sich an etwas zu kehren.
Als er dem Aufenthalt des Untieres nahe war und es wiehern hörte,
stieg er ab, band seinem Ross Sattel und Zaumzeug los, suchte Schutz
auf einer hohen Eiche und erwartete dort, das blutige Schauspiel
beginnen zu sehen. Kaum war er oben, da kam der Hengst wütend herbei
gerannt, griff das Ross an und es begann ein furchtbarer Kampf. Denn
gleich zwei entfesselten Löwen stürzten sie auf einander los, und der
Schaum entfloss ihnen wie grimmigen Ebern, die von schnellen Hunden
gehetzt werden. Nach langem mutigen Streit gab das Zauberross seinem
Gegner einen derben Hufschlag mit dem scharfen Eisen, traf ihm den
Kinnbacken und zerschmetterte ihn. Dadurch verlor der Hengst alle
Kraft und konnte sich nicht länger verteidigen.
Da stieg Guerrino voller Freuden von dem Baum, schlang dem Tiere einen
Strick um den Hals und führte es unter großem Jubel des Volks durch
die Stadt zum König, der ihn auf das Ehrenvollste empfing.
Den beiden Dienern aber war dieser Sieg ihres Herrn höchst
unwillkommen, denn er vereitelte ihr böses Vorhaben. Voller Ärger
darüber ließen sie von Neuem eine Botschaft an den König ergehen,
Guerrino könne, wenn er Lust hätte, auch leicht das andere wilde Tier
überwältigen.
Zifroi ließ ihn hierauf wieder vor sich kommen und trug ihm auch diese
Unternehmung auf; und auf seine Weigerung drohte er ihm, ihn als einen
Rebellen an einem Fuß aufhängen zu lassen.
Als Guerrino dem Gefährten sein Unglück erzählte, sprach dieser
lächelnd: „Fürchte nichts, Bruder, geh nur zum Hufschmied und bestelle
vier andere Hufeisen, noch einmal so groß als die ersten, und mit
tüchtigen scharfen Haken versehen. Dann wird es dir eben so gut
gelingen, als mit dem Hengst, und du wirst noch weit größeren Ruhm
davon tragen."
Die Eisen wurden gemacht, das Ross beschlagen; Guerrino zog wieder
aus, und als er dorthin kam, wo die Stute sich aufhielt und sie
wiehern hörte, tat er, wie er das erste Mal getan.
Kaum hatte er das Zauberross frei gelassen, da stürzte das Untier mit
grimmigen Bissen darauf los, und jenes vermochte beinahe nicht, sich
zu wehren. Es hielt sich aber wacker und gab der Stute einen so
gewaltigen Hufschlag an das rechte Vorderbein, dass sie es nicht mehr
rühren konnte.
Da verließ Guerrino den Baum, band die Stute, bestieg sein Ross und
kehrte in die Stadt zurück. Hier empfing man ihn jubelnd; Alt und Jung
lief neugierig herbei, das gelähmte Ungeheuer zu sehen, und im Triumph
begleitete man den Sieger zum Palast, wo er dem König die gefangene
Stute überbrachte, die bald darauf an ihrer schweren Verletzung starb.
Und so ward das Land gänzlich von seiner Plage erlöst.
Guerrino war Indes in seine Wohnung zurückgekehrt und hatte sich
niedergelegt, um auszuruhen; allein ein ungewöhnliches Geräusch in
seinem Zimmer ließ ihn nicht schlafen. Er stand auf und hörte, dass es
aus einem Gefäß mit Honig kam, worin etwas flatterte, als ob es heraus
wolle. Da öffnete er das Gefäß und fand eine Wespe darin, die
ängstlich mit den Flügeln schlug und sich nicht von dem Honig
losmachen konnte. Mitleidig nahm er das Tierchen heraus und gab ihm
die Freiheit.
Noch hatte der König den Guerrino nicht belohnt für seinen zwiefachen
Sieg: er glaubte etwas für ihn tun zu müssen, ließ ihn rufen und
sprach: „Guerrino, du hast mein Reich errettet und es ist billig, dass
ich mich dankbar dafür bezeige. Da mir aber kein anderes Geschenk
deinem großen Verdienst angemessen scheint, habe ich beschlossen, dir
eine meiner Töchter zur Frau zu geben. Wisse, dass ich deren zwei
besitze, Potenzia, der die Locken, mit reizender Kunst geordnet, wie
helles Gold glänzen, und Cleutheria, deren Haar wie feines Silber
schimmert. Kannst du nun, wenn Beide verschleiert sind, die
goldgelockte erraten, so erhältst du sie zur Frau nebst einer reichen
Mitgift; errätst du sie aber nicht, so wird dir das Haupt vom Rumpf
geschlagen."
Sehr bestürzt über dieses gefährliche Anerbieten des Zifroi, sprach
Guerrino zu ihm: „Großer König, ist dies der Preis meiner Siege? Dies
der Lohn meiner Bemühungen? Dies das Ehrengeschenk für die Errettung
eures dem Untergang nahen Landes? Wahrhaftig, ich habe etwas Besseres
verdient! Und nicht geziemt es einem so hohen Fürsten, dergestalt zu
verfahren. Allein ihr wollt es und ich bin in euren Händen. Tut denn
mit mir, wie es euch gefällt."
„Geh jetzt“, sagte der König, „und zaudre nicht zu lange, bis morgen
Abend gebe ich dir Frist, darüber nachzudenken."
Betrübt eilte Guerrino nach Hause und erzählte seinem lieben
Gefährten, was der König von ihm verlange. „Sei ganz ruhig“, gab ihm
dieser zur Antwort, „dir soll geholfen werden. Erinnere dich der
Wespe, die du aus dem Honig befreitest, sie wird dich jetzt aus der
Verlegenheit ziehen. Morgen nach der Mahlzeit wird sie zum Palast
fliegen und dreimal das Gesicht der goldgelockten Prinzessin
umschwirren, und diese wird sie jedes Mal mit ihrer weißen Hand
verjagen. Durch dieses Zeichen wirst du dann erkennen, welches die dir
bestimmte Gemahlin ist." —
„Niemals, und wenn ich tausend Jahr alt würde“, rief Guerrino aus,
könnte ich dir so große Wohltat lohnen, allein der Vergelter alles
Guten wird es gewiss statt meiner tun." —
„Teuerster Bruder“, sagte der andere: „Du bist mir keinen Dank
schuldig, es ist endlich Zeit, dass du erfahrest, wer ich sei. Einst
halfest du mir aus großer Not und jetzt wollte ich nur mich meiner
Verpflichtung gegen dich entledigen. Mein Name ist Rubinetto und ich
bin jener Waldmensch, den du einst aus der Gefangenschaft deines
Vaters befreitest."
Darauf erzählte er ihm, wie die Fee ihn verwandelt habe. Guerrino,
verwundert und erfreut, umarmte und küsste ihn mit Tränen, und sie
schwuren einander brüderliche Treue.
Am anderen Tage gingen Beide zum Palast. Der König befahl, seine
geliebten Töchter, Potenzia und Eleutheria sollten, ganz in weiße
Schleier gehüllt, vor ihm erscheinen. Als sie gekommen waren und
Niemand eine von der andern unterscheiden konnte, sprach Ziftoi:
„Guerrino, welche von Beiden willst du zur Gemahlin haben?"
Guerrino antwortete nicht und stand sinnend da. Darüber wurde der
König ungeduldig und trieb ihn an: „Die Zeit vergeht“, sprach er,
entschließ dich." —
„Mein König“, erwiderte Guerrino: „Du hast mir den ganzen heutigen Tag
zur Überlegung gegönnt und noch ist er nicht vorüber."
So schwebte alles in Sorge und Erwartung; da flog die Wespe herbei und
umschwirrte das Haupt der goldlockigen Potenzia. Diese erschrak und
jagte sie mit der Hand fort; und als die Wespe sich ihr dreimal genaht
und Potenzia sie dreimal verscheucht hatte, flog sie davon. Guerrino
gab genau darauf Acht und das Vertrauen auf seinen geliebten Rubinetto
hob nun jeden Zweifel.
„Wohlan“, rief jetzt der König, „es ist Zeit, der Sache ein Ende zu
machen, wühle also.«
Guerrino betrachtete beide Jungfrauen wohl, dann legte er die Hand auf
das Haupt Potenzias, die er durch Hülfe der Wespe kannte und sprach:
„Mein König, diese ist eure Tochter mit den goldenen Locken."
Da nahm die Jungfrau den Schleier ab und alle sahen, dass es die
Prinzessin Potenzia war.
Der Vater gab sie ihm nun zur Gemahlin, zur großen Freude des ganzen
Volks, und Rubinetto, sein treuer Gefährte, bekam die andere
Schwester. Hierauf entdeckte Guerrino, dass er der Sohn des Königs von
Sizilien sei und Zifroi, dessen Zufriedenheit dadurch vermehrt ward,
feierte die Hochzeiten aufs Prächtigste.
Man unterließ nicht, den Eltern des Guerrino Nachricht von dieser
Heirat zu geben; und ihre Freude bei einem so unerwarteten Glück war
unbeschreiblich, denn sie hatten ihren Sohn für verloren geachtet.
Bald darauf kehrte Guerrino in Begleitung seiner geliebten Gattin,
seines treuen Bruders und seiner Schwägerin nach Sizilien zurück, wo
ihn seine Eltern auf das Zärtlichste empfingen. Und dort lebte er
lange Zeit in Glück und Frieden, mit einer blühenden Nachkommenschaft
gesegnet.
Märchen der Welt, nach einer Übersetzung von Dr. Kletke, 1846, mit angepasster Schreibweise.