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Gedanken erraten - Märchen von Simrock
Gedanken erraten
Es war einmal ein König, der hatte einen einzigen Sohn, mit dem er viel Kummer
erlebte, denn er war ein Tunichtgut und Bruder Liederlich und keine Ermahnung
wollte bei ihm fruchten. Der Vater ward es endlich müde und sprach zu ihm: Ich
kann dein Treiben nicht länger mit ansehen: Hier haft du, was von dem Erbteil
deiner Mutter noch übrig ist; damit zieh hinaus in die Welt; vielleicht wirst du
klüger werden." Der Königssohn war es zufrieden, ließ sich zwei Pferde
vorführen, packte Silber und Gold auf das eine, setzte sich selber auf das
andere und ritt hinaus in die Welt. Hatte er bisher schon locker gelebt, so ließ
er sich jetzt erst recht den Zügel schießen, da er sich vor seinem Vater nicht
mehr zu scheuen brauchte. Die Schätze, die er bei sich führte, schienen ihm
unerschöpflich, er verschwendete mit beiden Händen und meinte das sollte ewig so
fortgehen. Doch machte er eines Tags die Entdeckung, dass es mit dem Golde zu
Ende war und ihm nichts mehr übrig blieb als das Silber. Da kam er an einem
Samstag in eine große Stadt, wo er über Nacht blieb. Am andern Morgen stand er
früh auf und ging zur Kirche. Als der Gottesdienst vorüber war, sah er vor der
Kirchtür einen nackten Leichnam liegen, den alle Vorübergehenden anspieen,
stießen und schlugen. Das kam ihm sehr grausam vor, er ging hinzu und fragte den
ersten Besten, warum der Tote so misshandelt würde. Da sagte man ihm, der Tote
habe nichts als Schulden hinterlassen, und werde nun so lange angespieen,
gestoßen und geschlagen bis einer käme, der seine Schulden bezahlte.
Der Königssohn hatte Mitleid mit dem Toten und erklärte sich bereit, alle seine
Schulden zu bezahlen, wenn man ihm den Leichnam überlassen wollte. Als die
Gläubiger das hörten, kamen sie gleich in dem Gasthause zusammen, schlugen ihre
Bücher nach und stellten eine Rechnung aus, die sich so hoch belief, dass dem
Königssohn, wenn er die Schuld tilgte, eben noch so viel übrig blieb, den Wirt
zu befriedigen.
Er zahlte aber alles bis aus Heller und Pfennig und erhielt dafür den Leichnam.
Den wickelte er in seinen Purpurmantel, band ihn auf sein lediges Pferd und ritt
zum Tor hinaus. Gegen Mittag kam er in einen großen Wald: Da suchte er einen
stillen Platz unter einer hohen Eiche, grub mit seinem Schwerte ein tiefes Grab,
senkte den Toten in seinem Mantel hinein und deckte das Grab mit den Händen
wieder zu. Von der Eiche hieb er dann zwei Zweige, schälte sie und bildete ein
Kreuz daraus: Das steckte er auf den Grabhügel, kniete nieder und betete für die
Seele des Verstorbenen. Alsdann sah er sich nach einem Mittagsmahl um, denn von
dem Ritt und der anstrengenden Arbeit fühlte er sich ganz erschöpft. Da fand er
einen Baum mit wilden Feigen; dabei floss ein Bach mit klarem Wasser: Er aß und
trank und meinte, es hätte ihm nie so wohl geschmeckt. Nun trieb er seine Pferde
von der Weide, sattelte und zäumte sie und ritt seines Weges weiter. Als er vor
den Wald kam, traf er einen Mann, der auf jemanden zu warten schien. Als der den
Königssohn sah, ließ er sich in ein Gespräch mit ihm ein, und als er hörte, er
reise in die Welt ohne Zweck und Ziel, bot er ihm seine Begleitung an. Das war
dem Königssohn recht, er bot dem Fremden sein lediges Pferd und so ritten sie
zusammen. Unterwegs am Fuß eines Berges trafen sie ein altes Mütterchen, das
unter der Last einer Holzbürde niedergesunken war. Helft mir aus!, flehte sie.
Da zog der Fremde ein Fläschchen hervor und goss der Alten ein Paar Tropfen auf
die Zunge. Sogleich sprang sie selbst wieder aus, dankte ihnen und ging
wohlgemut weiter unter ihrer Bürde. Aus dieser hatte aber der Fremde einige
Reiser gezogen: daraus bildete er drei Ruten. Da fragte der Königssohn: „Was
willst du damit machen?" „Wir werden sie brauchen“, versetzte der Fremde. Sie
gingen weiter und kamen in die Mitte des Berges; da lag ein verwundeter Soldat,
der sie kaum noch um Hilfe ansprechen konnte. Der Fremde zog wieder sein
Fläschchen hervor, ließ den Soldaten trinken und goss einen Tropfen auf seine
Wunde. Da stand er gleich frisch und munter auf den Füßen; die Wunde aber war
vernarbt. Dankbar bot der Soldat seinem Retter Hab und Gut als Lohn; aber dieser
verlangte nichts als sein Schwert, Das gab der Soldat ihm herzlich gern und
fügte tausend Dank hinzu. Was willst du nur damit machen?, fragte der Königssohn
wieder. „Wir werden es brauchen, war die Antwort. Nun kamen sie aus die Höhe des
Berges: Da lag ein kranker Rabe. Dem ist nicht mehr zu helfen, sagte der Fremde
und hieb ihm den Kopf ab. Dann trennte er beide Flügel von dem Rumpfe und
steckte sie zu sich. Der Königssohn fragte zum dritten Mal: Was willst du nur
damit?" Wir werden sie brauchen, erwiderte der Fremde.
Als sie nun den Berg hinab kamen, lag da eine große Stadt. Da sahen sie das Volk
zusammen laufen, denn eben ließ der König öffentlich ausrufen, wer dreimal die
Gedanken seiner Tochter erraten könne, solle sie zur Gemahlin erhalten und nach
dem Tode des Vaters das Königreich erben. Wer sich aber melde und nicht alle
Aufgaben zu lösen wisse, habe das Leben verwirkt. Da lachten die Leute und
sprachen: Den müsste der Hals wohl übel jucken, der das noch ferner versuchen
wolle, nachdem es so Vielen missglückt sei. Damit wiesen sie auf die Gitterstäbe
vor der Burg, wo schon neun und neunzig Köpfe aufgepflanzt standen. Aber der
Fremde sprach zu dem Königssohn: Höre, du musst die Gedanken der Königstochter
zu erraten suchen. Da weigerte sich der Königssohn und sprach: Soll ich das
Hundert voll machen? Aber der Fremde sprach ihm Mut ein: Verlass dich auf mich,
ich werde dir beistehen. Also meldete sich der Königssohn und erhielt mit seinem
Begleiter Aufnahme in der königlichen Burg. Am andern Morgen sollte er seine
Probe ablegen: Davor hatte er solche Angst, dass er Trank und Speise unberührt
ließ. Da sprach der Fremde:
Iss und trink wohlgemut;
Dein Leben steht in hoher Hut.
Da griff der Königssohn zu und genoss Trank und Speise. Dann ging er nach des
Fremden Rat zu Bette; aber die Sorge ließ ihn nicht Schlafen. Der Fremde sprach:
Schlaf du bis an den Morgen;
Lass mich dein Gut besorgen.
Da schlief der Königssohn ein. In der Nacht öffnete die Königstochter das
Fenster und flog nach einem nahen Berge: Da wohnte ein Zauberer, bei dem sie
sich Rat zu holen pflegte.
Der Fremde hörte das Fenster klingen: da band er sich die Rabenflügel an, nahm
eine von den drei Ruten in den Schnabel und flog ihr ungesehen nach. Als die
Königstochter an den Berg kam, hatte der sich aufgetan: Da flog sie hinein und
hinter ihr drein der Rabe. Da war eine große weite Höhle: hinten an der Wand aus
einem Pferdegerippe als Thron saß der alte Zauberer, ein kleiner hässlicher Kerl
mit dickem Kopf und langem Bart. Neben ihm standen lange Stäbe und aus jedem
Stab ein Kohlkopf; das stellte die Bedienung vor. Als die Königstochter hinein
kam, verneigten sich die Kohlköpfe dreimal; der alte Zauberer aber stieg von
seinem Thron, sie zu begrüßen; dann hieß er sie zu seiner Rechten niedersitzen.
„Was bringst du Neues, meine Tochter?" „Es ist wieder ein Bewerber angekommen“,
sagte sie, „helft mir ein schweres Wort aussuchen, das er erraten soll." — „Ja,
meine Tochter“, sprach der Zauberer. Gib ihm das Wort Brot aus: Das rät er
sicher nicht." Die Königstochter dankte ihm und entfernte sich; die Kohlköpfe
verneigten sich dreimal. Der alte Zauberer aber gab ihr das Geleit und flog mit
ihr bis zu ihrem Schlosse; hinter beiden drein aber der Rabe, der alles mit
angehört hatte. Draußen aber nahm er seine Rute und peitschte wacker auf beide
los. Hu!, rief sie, wie es hagelt! Vor dem Schloss nahm der alte Zauberer
Abschied und flog zurück; sie aber flog durch das Fenster in ihr Gemach und der
Fremde ging zu dem Königssohn, der in tiefem Schlummer lag.
Am Morgen war im Schlosse große Versammlung. Aus dem Throne neben dem König saß
die Königstochter; vor ihr stand der Königssohn und ihm zur Seite der Fremde. Da
begann die Königstochter und gebot ihrem Freier das Wort zu nennen, woran sie
dächte. Sage „Brot“, flüsterte der Fremde. Brot, stotterte der Königssohn. Die
Königstochter erblasste und bekannte, er hätte es geraten. Da klatschte die
ganze Versammlung dem Königssohn Beifall. Aber die Königstochter erhob sich
hochrot vor Zorn und rief: Heute ist es dir gelungen; aber freue dich nicht zu
früh, morgen musst du sterben!
Am Abend ward der Königssohn noch besser bewirtet als gestern; aber der Braten
wollte ihm nicht schmecken, der Wein nicht munden. Die Worte der Königstochter:
Morgen musst du sterben!, hallten ihm in den Ohren wieder. Da sprach der Fremde:
Iss und trink wohlgemut,
Dein Leben steht in hoher Hut!
Da griff der Königssohn zu und labte sich. Auf des Fremden Rat legte er sich
auch zu Bette; aber der Schlaf mied ihn. Endlich sprach der Fremde:
Schlaf du bis an den Morgen:
Lass mich dein Heil besorgen.
Da schlief der Königssohn ein. In der Nacht, als das Fenster wieder klang, legte
der Fremde die Rabenflügel an, nahm aber diesmal zwei Ruten mit. So flog er
hinter der Königstochter her in den Berg, wo die Kohlköpfe sich dreimal vor ihr
verneigten. Was bringst du Neues?, meine Tochter, fragte der alte Zauberer. Böse
Zeitung, sprach die Königstochter. Der Freier hat meine Gedanken erraten. Oder
gibt es hier Verräter? — „Meine Leute sind treu“, sprach der alte Zauberer. „So
sagt mir, woran ich morgen denken soll." Da riet ihr der Zauberer, an ihr
goldenes Halsgeschmeide zu denken. Dann flog er mit ihr bis an das Schloss,
hinter Beiden drein aber der Rabe, der mit den Ruten jämmerlich auf sie
losschlug. Hu!, rief die Königstochter. Huhu! Wie das klatscht! Damit trennte
sie sich von dem Zauberer und flog in die Burg zurück. Der Fremde aber ging zu
dem Königssohn, der schon in tiefem Schlafe lag. Am Morgen saß die Königstochter
neben dem König aus dem Thron und blickte zornig auf den Freier, der neben dem
Fremden vor ihr stand. Schicke deinen Begleiter hinweg, sprach sie höhnisch: Du
bist so weise, du brauchst keinen Einflüsterer. Der Fremde zog sich zurück; er
hatte aber dem Königssohn schon Bescheid gesagt. Rate jetzt, woran ich denke,
gebot die Königstochter. An dein goldenes Halsgeschmeide, riet der Königssohn.
Die Königstochter ward bleich und rot und bekannte beschämt, er hätte es
erraten. Lauter Jubel ging durch die Versammlung. Alles jauchzte dem Königssohn
Beifall, und erschöpfte sich im Preisen seines Scharfsinns. Aber die Königin
rief: „Noch keinem ist es gelungen, meine Gedanken zum andermal zu erraten. Aber
wehe dir, wenn du dir morgen nicht gleich bleibst. Auf Gnade hast du nicht zu
hoffen. Ich will aus Martern sinnen, deine Todesqual zu schärfen."
Am Abend mundete dem Königssohn nicht Trank noch Speise, obwohl man ihn noch
reichlicher und köstlicher bedienen ließ. Die Drohung der Königstochter, noch
mehr aber die nahende Entscheidung über ihren Besitz presste ihm das Herz
zusammen. Aber der Fremde sprach: Du kennst doch jetzt die Macht meines
Beistands.
Darum iss und vertraue wohlgemut
Dein Glück, dein Leben hoher Hut.
Da nahm der Königssohn Trank und Speise. Aus den Rat des Fremden versuchte er
auch zu schlafen; aber kein Schlummer wollte aus seinen Augenliedern weilen.
Endlich sprach der Fremde:
Schlaf fest bis an dm Morgen;
Lass mich dein Heil besorgen.
Da schlief der Königssohn ein. Um Mitternacht, als er das Fenster klingen hörte,
legte der Fremde die Rabenflügel an, nahm aber diesmal alle drei Ruten mit und
umgürtete sich mit dem Schwerte. Der alte Zauberer war sehr erbost, als ihm die
Königin klagte, der Freier habe auch diesmal ihre Gedanken erraten. Er stieß die
Kohlköpfe von ihren Stangen und schleuderte sie den Berg hinab. Folge mir jetzt,
meine Tochter, sprach er zu ihr, und denke an mein Haupt: Das wird er ganz
gewiss nicht raten. Da erhob sich die Königstochter und der Alte gab ihr Geleit
bis an ihr Schloss. Unterwegs peitschte der Fremde mit den drei Ruten so
unbarmherzig aus sie beide los, dass die Königstochter jammerte. Huhu! rief sie,
welch Schlossenwetter! Huhu! Wie das peitscht! Als sie an den Berg kam, flog sie
durch das Fenster, und der Zauberer wandle sich zurück nach dem Berge; aber der
Fremde setzte ihm nach und holte ihn bald ein. Dann fasste er ihn beim Schopfe
und hieb ihm mit dem Schwerte das Haupt ab: Damit flog er zurück in die Burg und
hüllte es in ein Tuch; unterdes lag der Königssohn in tiefem Schlafe.
Am Morgen, als er zur Versammlung ging, gab er das Tuch dem Königssohn und
sagte: Wenn die Königstochter früge, woran sie jetzt dächte, sollte er das Tuch
stillschweigend zurückschlagen und sie und alle Welt schauen lassen, was es
verhülle. Da gingen sie in den Saal, wo die Königstochter hochzeitlich
geschmückt und von Schönheit strahlend an des Königs Seite saß. Da hub die
Königstochter an: Rate nun, wenn du kannst, woran ich denke. Der Königssohn
schwieg, entfaltete aber das Tuch und zeigte ihr und der ganzen Versammlung des
Zauberers Haupt. Da fuhr ein Grausen durch den Saal, die Königstochter stieß
einen lauten Schrei aus und der Königssohn selbst ließ das Tuch mit dem Kopf vor
Entsetzen fallen. Der Fremde allein blieb ruhig, hob das Haupt an dem langen
Barte empor und schleuderte es zum Fenster hinaus in den Burggraben. Als die
Königstochter sich erholt hatte, stieg sie mit ihrem Vater vom Throne und dieser
legte ihre Hand in die des Königssohns. Alles Volk jauchzte ihm Beifall und
freute sich, dass die Königstochter endlich besiegt war.
Als der Lärm schwieg, zog der Fremde den Königssohn beiseite und sprach: Nun
sollst du auch hören, wer ich bin. Sieh, ich bin der Geist des Toten, dem du
durch ein ehrliches Begräbnis zur ewigen Ruhe verholfen hast. Ich durfte dich
noch so lange begleiten, bis ich dir deinen Dienst vergolten hatte. Nun aber
lebe wohl. Mit diesen Worten verschwand er.
Der Königssohn nahm nun die Königstochter zur Gemahlin und nach dem Tode seines
Vaters fiel ihm das Reich zu. Als sein Vater vernahm, wie es ihm ergangen sei,
freute er sich wegen seiner Besserung und seines Glücks, und gab ihm sein Reich
noch dazu.
Deutsche Märchen, Karl Simrock - 1864, mit angepasster Schreibweise.