Märchen Autoren: A B    C D E    F G    H I J    K L    M N    O P Q    R S    T U    V W    Z
Märchen Titel: A B    C D E    F G    H I J    K L    M N    O P Q    R S    T U    V W    Z
Märchen Themen: A B    C D E    F G    H I J    K L    M N    O P Q    R S    T U    V W    Z

Prinz Kobold - Französische Märchen

Prinz Kobold

Es waren einmal ein König und eine Königin, die nur einen Sohn hatten und ihn, obwohl er äußerst hässlich war, dennoch leidenschaftlich liebten. Er war so dick wie der dickste Mann und so klein wie der kleinste Zwerg. Doch die Hässlichkeit seines Gesichtes und die Missgestalt seines Körpers verschwanden in Vergleich zu seiner Bosheit, welche so groß war, dass er sich Mühe gab, Jedermann Böses zuzufügen.
Der König zwar bemerkte dies seit seiner frühsten Kindheit, allein die Königin liebte ihn ganz närrisch und trug durch ihre übertriebene Nachgiebigkeit, die ihrem Sohne zeigte, welche Gewalt er über sie habe, noch mehr dazu bei, ihn zu verderben; so wie denn auch, um der Königin nicht zu missfallen, Jedermann zu ihr sagen musste, dass ihr Sohn schön und geistreich sei.
Nachdem sie lange nachgesonnen hatte, welchen Namen sie ihm geben sollte, der Achtung und Furcht einflöße, nannte sie ihn „Wüterich."

Als er das Alter erreicht hatte, in welchem man ihm einen Erzieher geben musste, wählte der König einen Prinzen, welcher selbst von Alters her Rechte auf die Krone hatte und sie auch mutig verteidigt haben würde, wenn seine Angelegenheiten sich in einer bessern Lage befunden hätten; er dachte aber schon lange nicht mehr daran und wandte vielmehr alle seine Bemühungen darauf, seinen einzigen Sohn gut zu erziehen.
Dieser besaß den liebenswürdigsten Charakter von der Welt, einen lebhaften und durchdringenden Verstand. Alles, was er sagte, zeichnete sich durch eigentümliche Anmut aus und sein Äußeres war im höchsten Grade einnehmend.

Nachdem der König jenem vornehmen Herrn die Erziehung Wüterichs übergeben hatte, befahl er diesem, seinem Erzieher gehorsam zu sein; Indes Wüterich gehörte zu den Strohköpfen, die man hundertmal züchtigen kann, ohne sie einmal zu bessern. Leander, der Sohn seines Erziehers, war bei Jedermann beliebt, besonders bei den Damen, aber er kümmerte sich wenig darum, und hielt sich fast immer nur in der Gesellschaft Wüterichs auf. Dieser erschien dadurch nur umso garstiger und unangenehmer. Er hatte für alle Welt und so auch für die Mädchen und Frauen der Königin nur Grobheiten.

Bald waren sie schlecht gekleidet, bald hatten sie ein kleinstädtisches Aussehen, bald sagte er ihnen vor aller Welt geradezu ins Gesicht, dass sie geschminkt wären. Er bekümmerte sich nur um sie, um sie gelegentlich bei der Königin anzuschwärzen, welche sie dann ausschalt und zur Strafe fasten ließ.
Alles dieses machte, dass man Wüterich eben so hasste, wie man Leander liebte. Er merkte dies auch sehr wohl, schob aber alle Schuld auf Leander.
„Du bist doch ein glücklicher Mensch“, sagte er öfters zu diesem, indem er ihn boshaft anschielte, „alle Damen sind dir hold, nur mir nicht!"

„Gnädiger Prinz“, pflegte Leander bescheiden zu erwidern, „nur die Ehrfurcht hält sie von einem zutraulichen Benehmen gegen euch zurück."
„Da tun sie auch ganz wohl“, sagte dann gewöhnlich der Prinz, „es sollte ihnen schlecht bekommen!"
Einstmals waren von weit her fremde Gesandte angekommen und der Prinz stand in Begleitung Leanders auf einer Galerie, um ihren Einzug mit anzusehen. Sobald die Gesandten Leander bemerkten, gingen sie auf ihn zu, verbeugten sich tief und legten ihm auf alle Weise ihre Ehrerbietung und Bewunderung an den Tag. Den Prinzen Wüterich aber hielten sie für seinen Zwerg, fassten ihn am Arm, drehten ihn, trotz alles seines Sträubens, hin und her und trieben ihren Spaß mit ihm.
Leander geriet hierüber in die äußerste Angst und Verlegenheit; er gab sich alle erdenkliche Mühe, ihnen bemerkbar zu machen, dass es der Sohn des Königs sei; sie verstanden ihn aber nicht, und der Dolmetscher hatte sich unglücklicherweise schon zum König begeben, um sie dort zu erwarten. Als Leander sah, dass seine Winke ihnen nicht verständlich waren, so bezeigte er sich gegen den Prinzen noch weit ehrfurchtsvoller. Die Gesandten Indes, so wie ihr ganzes Gefolge, hielten dies nur für Scherz, lachten, dass ihnen der Leib weh tat, und wollten dem Prinzen, wie sie es daheim gewohnt waren, Nasenstüber geben.
Wüterich dagegen zog voller Zorn seinen kleinen Degen, der nicht länger war als ein Fächer und würde sicher ein Übel damit angerichtet haben, wenn nicht der König so eben dazu gekommen wäre, der, ganz erstaunt über das Benehmen seines Sohnes, die Gesandten, deren Sprache er verstand, sehr um Entschuldigung bat.

Sie erwiderten ihm, es habe nichts weiter auf sich, sie sähen ja wohl, dass dieser hässliche Zwerg übel gelaunt sei. Der König war nicht wenig betrübt darüber, dass die garstige Gestalt seines Sohnes ihn dergleichen Missverständnissen aussetzte.
Kaum waren die Gesandten fort, so ergriff Wüterich Leander bei den Haaren, riss ihm zwei oder drei Hände voll aus, und würde ihn, wenn er gekonnt hätte, erwürgt haben; verbot ihm auch, sich je wieder vor ihm sehen zu lassen.
Leanders Vater, über das Benehmen Wüterichs höchst erzürnt, schickte nun seinen Sohn auf eins seiner Landhäuser.
Hier lebte er nichts weniger als müßig, fischte, ging spazieren und Bücher, Musik und Malerei beschäftigten ihn abwechselnd. Er schätzte sich glücklich, einem so launenhaften Prinzen nicht mehr dienen zu dürfen und empfand trotz der Einsamkeit doch keinen einzigen Augenblick Langeweile.
Eines Tages, nach einem langen Spaziergang in seinen Gärten, trieb ihn die zunehmende Hitze in ein kleines Wäldchen, dessen hohe und dichtbelaubte Bäume einen angenehmen Schatten gewährten. Zum Zeitvertreib fing er an, auf der Flöte zu blasen, als er mit einem Mal fühlte, wie sich etwas um seinen Fuß wand und ihn fest zusammendrückte.
Als er nachsah, was dies sein möge, entdeckte er mit Erstaunen eine große Natter. Er nahm sein Schnupftuch, packte sie beim Kopf und war im Begriff, sie zu töten. Allein sie schlang sich um seinen Arm und sah ihn unverwandt an, als ob sie um Gnade bitten wolle. In diesem Augenblick kam einer von den Gärtnern dazu. Kaum erblickte dieser die Natter, so rief er seinem Herrn zu: „Gnädiger Herr, haltet sie fest, denn ich verfolge sie schon länger als eine Stunde. Es ist das verschlagenste Tier, das es auf der Welt gibt, es verwüstet unaufhörlich unsere Blumenbeete."

Leander betrachtete die Natter noch einmal; sie glänzte von tausenderlei schönen Farben und sah ihn, ohne sich zu verteidigen, noch immer bewegungslos an. „Da sie bei mir ihre Zuflucht gesucht hat“, sagte er hierauf zu feinem Gärtner, „so verbiete ich dir, ihr irgend ein Leid zuzufügen, denn ich will sie füttern und wann sie ihre schöne Haut abgeworfen hat, wieder in Freiheit setzen."
Sodann kehrte er in das Schloss zurück, setzte sie in ein großes Zimmer, von welchem er allein den Schlüssel hatte, und ließ ihr Kleie, Milch, Blumen und Kräuter bringen, um sie zu füttern und ihr den Aufenthalt angenehm zu machen. Das war einmal eine glückliche Natter!
Zuweilen sah er, was sie machte; dann kam sie ihm sogleich entgegen, kletterte an ihm hinauf und erwies ihm alle möglichen Schmeicheleien, deren eine Natter fähig ist. Der Prinz wunderte sich zwar darüber, achtete aber nicht besonders darauf.

Alle Damen am Hofe trauerten Indes über Leanders Abwesenheit, sie sprachen nur von ihm und wünschten ihn wieder zurück. „Ach!“, sagten sie, „seitdem Leander fort ist, gibt es kein Vergnügen mehr bei Hofe, und daran ist nur der böse Wüterich Schuld. Musste er darum dem Leander so gehässig sein, weil dieser liebenswürdiger und geliebter ist, als er? Hätte sich denn etwa Leander, ihm zu gefallen, einen Buckel machen sollen oder sein Gesicht zerkratzen? Sollte er, um ihm ähnlich zu sehen, sich die Knochen verrenken, den Mund bis an die Ohren aufreißen, die Augen zusammen und die Nase platt drücken? Das ist einmal eine kleine boshafte Kröte. Er wird nimmer in seinem Leben Freude haben, denn er wird nie Jemand finden, der hässlicher ist als er."
Auch die schlechtesten Fürsten haben immer doch ihre Schmeichler und die bösen sogar noch mehr, als die guten. So hatte auch Wüterich die seinigen. Die Gewalt, die er über seine Mutter ausübte, machte ihn furchtbar. Man hinterbrachte ihm daher auch, was die Damen über ihn sagten, und er geriet darüber in den heftigsten Zorn. Er ging auf der Stelle zu seiner Mutter und sagte, er werde sich vor ihren Augen umbringen, wenn sie nicht irgendein Mittel fände, dem Leander das Leben zu nehmen.

Die Königin, welche Leander ohnehin hasste, weil er schöner war, als ihr Affe von Sohn, erwiderte, sie habe schon seit lange Leander für einen Verräter gehalten, und würde also sehr gern zu seinem Tode die Hand bieten. Der Prinz solle mit seinen vertrautesten Leuten auf die Jagd gehen, Leander werde auch dahin kommen, und da könne man ihn lehren, sich noch ferner bei aller Welt beliebt zu machen.
Wüterich begab sich also auf die Jagd. Als Leander Hundegebell und Hörnerblasen in der Nähe seines Schlosses hörte, stieg er zu Pferd und ritt in den Wald, um zu sehen, was es gäbe.
Er war über das unvermutete Zusammentreffen mit dem Prinzen sehr überrascht, stieg jedoch ab und begrüßte ihn ehrfurchtsvoll. Wüterich empfing ihn besser, als Leander erwartet hatte, und sagte, er solle ihm folgen. Zugleich aber schlug er selbst einen Seitenweg ein und winkte den Mördern, gut zu zielen.
Doch indem er sich rasch entfernte, sprang ein Löwe von ungeheurer Größe aus seiner Höhle hervor, auf ihn los und warf ihn zu Boden. Seine Begleiter ergriffen die Flucht und Leander blieb allein zurück, dieses wütende Tier zu bekämpfen. Er griff es, auf die Gefahr verschlungen zu werden, mit dem Degen in der Faust an und rettete durch seine Tapferkeit und Gewandtheit seinem grausamsten Feinde das Leben. Der Prinz war unterdessen vor Furcht in Ohnmacht gefallen und Leander leistete ihm, nachdem er das Tier erlegt, jeden möglichen Beistand. Als er sich ein wenig erholt hatte, bot ihm Leander sein Pferd an, um sein Gefolge wieder aufzusuchen.

Jeder andere würde so große und noch ganz frische Verpflichtungen aufs Tiefste empfunden und jede möglichen Beweise seiner Dankbarkeit durch Worte und Taten an den Tag gelegt haben. Nicht so der undankbare Prinz. Er blickte Leander nicht einmal an und bediente sich seines Pferdes nur, die Mörder wieder aufzusuchen, denen er seinen Befehl, Leander umzubringen, wiederholte.
Sie umringten Leander und er wäre unfehlbar verloren gewesen, wenn er weniger Mut gehabt hätte. Er lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum, um nicht von hinten angegriffen zu werden, focht wie ein Verzweifelter und streckte alle seine Gegner zu Boden.
Wüterich, welcher ihn schon für tot hielt, eilte herbei, um sich an dem Anblick seines Leichnams zu weiden. Allein er fand ein ganz anderes Schauspiel, als das, welches er erwartet hatte; denn alle jene Bösewichter hauchten eben ihr Leben ans.
Als Leander ihn erblickte, ging er auf ihn zu und sagte zu ihm: „Gnädiger Prinz, wenn ich auf euren Befehl ermordet werden sollte, so tut es mir leid, mich verteidigt zu haben."
„Unverschämter Mensch“, erwiderte der Prinz voller Zorn, „wenn du dich je wieder vor meinen Augen blicken lässt, so bist du des Todes."
Leander entgegnete nichts; er kehrte sorgenvoll nach Hanse zurück und brachte die ganze Nacht damit zu, darüber nachzudenken, was er beginnen solle; denn er sah wohl ein, dass er dem Sohne des Königs nicht Stand halten könne. Er beschloss endlich auf Reisen zu gehen; doch indem er im Begriff war, das Schloss zu verlassen, erinnerte er sich der Natter, nahm Milch und Früchte und trug sie nach ihrem Zimmer.
Als er die Tür des Zimmers öffnete, nahm er in einer Ecke desselben einen außerordentlichen Lichtglanz wahr, und als er genauer darauf hinsah, erblickte er zu seinem höchsten Erstaunen eine Dame, deren edles und majestätisches Aussehen ihre hohe Geburt vermuten ließ. Ihr Gewand war aus violettem Seidenstoff, mit Diamanten und Perlen gestickt.
Sie ging ihm mit freundlichen Blicken entgegen und sagte: „Junger Prinz, sucht die Natter nicht mehr, die ihr hierher gebracht habt, sie ist fort; statt ihrer findet ihr mich, euch zu vergelten, was sie euch schuldig ist. Doch ich muss verständlicher zu euch sprechen. So erfahrt denn, dass ich die Fee „Wunderhold" bin, deren heitere und lustige Streiche weit und breit berühmt sind. Wir Feen leben hundert Jahre, ohne zu altern, ohne Krankheit, ohne Kummer und ohne Sorge. Nach hundert Jahren verwandeln wir uns auf acht Tage in Schlangen. Dieser Zeitraum ist uns allein gefährlich, denn während desselben können wir keinen Unfall vorhersehen, noch von uns abwenden, und wenn man uns tötet, so kehren wir nicht wieder ins Leben zurück. Nach Verlauf dieser acht Tage aber erlangen wir unsere frühere Gestalt wieder, und damit unsere Schönheit, unsere Macht und unsern Reichtum. Jetzt wisst ihr, wie große Verpflichtungen ich gegen euch habe, und es ist nicht mehr als billig, dass ich mich ihrer entledige. Überlegt also, worin ich euch nützlich sein kann und rechnet auf mich."
Der junge Prinz, der bis dahin nichts mit Feen zu tun gehabt, war so erstaunt, dass er lange Zeit kein Wort hervorbringen konnte. Endlich machte er eine tiefe Verbeugung und sagte, nachdem er das Glück gehabt habe, ihr einen solchen Dienst zu erweisen, scheine ihm kein anderer Wunsch weiter übrig zu bleiben.
„Es würde mir sehr leid tun“, erwiderte die Fee, „wenn ihr mir keine Gelegenheit geben wolltet, mich dankbar zu erweisen. Bedenkt, ich kann euch zu einem mächtigen Könige machen, euer Leben verlängern, euch noch mehr Anmut und Liebenswürdigkeit verleihen, euch Paläste voll Gold, Gruben voll Diamanten schenken, euch zu einem trefflichen Redner, Dichter, Musiker und Maler bilden, euch die Gunst der Damen zuwenden, euch in einen Luft-, Wasser- und Erdkobold verwandeln."
Hier unterbrach sie Leander: „Erlaubt mir, euch zu fragen, was wird es mir denn nützen, wenn ich ein Kobold war'?"
„Zu tausend Vorteilhaftem und Angenehmen“, erwiderte die Fee. „Ihr seid unsichtbar, wann es euch gefällt, ihr durcheilt in einem Augenblick den unermesslichen Weltraum, ihr erhebt euch ohne Flügel in die Lüfte und dringt lebendig in die Tiefen der Erde; ihr taucht, ohne zu ertrinken, in die Abgründe des Meeres; ihr findet überall Eingang, wenn auch Fenster und Türen verschlossen sind und lasset euch nach eurem Belieben dann wieder in eurer natürlichen Gestalt sehen."
„Ach“, rief hierauf Leander, „wenn es so ist, so wünsch' ich, ein Kobold zu werden. Ich bin im Begriff, auf Reisen zu gehen und verspreche mir tausendfache Ergötzlichkeiten davon; ich ziehe dieses Geschenk allen übrigen vor, die ihr mir großmütig angeboten habt."
„Sei denn ein Kobold“, versetzte Fee Wunderhold, indem sie ihm dreimal mit der Hand die Augen und das Gesicht berührte; „sei ein liebenswürdiger, ein geliebter Kobold; sei ein vollkommener Kobold." Hierauf umarmte sie ihn, gab ihm einen kleinen roten, mit zwei Papageienfedern besetzten Hut und sprach: „wenn ihr diesen Hut aufsetzet, werdet ihr unsichtbar, wenn ihr ihn abnehmet, werdet ihr sichtbar sein."
Leander drückte sich ganz entzückt den kleinen runden Hut auf den Kopf und wünschte, nach dem Walde versetzt zu werden, um wilde Rosen zu pflücken, die er dort bemerkt hatte. In demselben Augenblick wurde sein Körper so leicht, wie seine Gedanken, und wie ein Vogel dahinfliegend, schwebte er durch das Fenster in den Wald. Freilich war er nicht ohne Furcht, als er sich so hoch in der Luft und über dem Fluss hinschweben sah, denn er besorgte hineinzufallen und dass die Macht der Fee nicht ausreiche, ihn dagegen zu schützen. Er gelangte Indes glücklich an den Fuß des Rosenstrauches, von welchem er drei Rosen pflückte, sich sogleich in das Zimmer zurückbegab, wo er die Fee noch antraf und ihr dieselben überreichte, hoch erfreut, dass sein kleiner Versuch ihm so wohl gelungen war.
Die Fee sagte zu ihm, er möge diese Rosen für sich behalten, die eine werde ihm so viel Geld verschaffen, als er bedürfe, die andere, wenn er sie an das Herz seiner Geliebten drücke, ihn von ihrer Treue oder Untreue belehren, und die dritte endlich ihn gegen jede Krankheit schützen. Hierauf wünschte sie ihm, ohne seinen Dank abzuwarten, eine glückliche Reise und verschwand.

Leander freute sich unendlich über die schönen Geschenke, die er so eben erhalten hatte. „Hätt' ich je denken können“, sprach er bei sich selbst, „als ich eine arme Natter aus den Händen meines Gärtners rettete, dass ich so reich und wunderbar dafür belohnt werden sollte?" O welch' Vergnügen werd' ich haben! was für angenehme Augenblicke! Was werd' ich dann nicht alles entdecken, wenn ich unsichtbar bin! Das Geheimste kann nicht vor mir verborgen bleiben." Erfreute sich nicht wenig auf irgendeine Rache, die er an Wüterich nehmen wollte.
Er hinterließ sogleich alle nötigen Befehle, bestieg das schönste Ross seines Marstalls, mit Namen „Lichtblau", und begab sich, von einigen seiner Bedienten begleitet, an den Hof zurück, wo das Gerücht von seiner Rückkehr sich sehr rasch verbreitete.
Nun muss man wissen, dass Wüterich, der ein großer Lügner war, vorgegeben hatte, Leander würde ihn ohne seinen Mut auf der Jagd ermordet haben, eben so wie sein ganzes Gefolge, und er verlange deshalb Leanders Bestrafung.
Der König, hierauf von den ungestümen Bitten der Königin überwältigt, befahl also, Leander gefangen zu nehmen. In diesem Augenblick wurde Wüterich benachrichtigt, Leander komme so eben und sehe ganz zuversichtlich und entschlossen aus.
Wüterich, der viel zu furchtsam war, um ihn selbst auszusuchen, lief in das Zimmer seiner Mutter, erzählte ihr, dass Leander da sei und bat sie, ihn doch gefangen nehmen zu lassen. Die Königin, die alles tat, was ihr Affe von Sohn nur immer wünschen mochte, eilte gleich zum Könige, der Prinz aber, ungeduldig zu erfahren, was man beschließen würde, folgte ihr stillschweigend nach.
Er blieb an der Tür stehen, legte das Ohr dicht daran und strich, um noch besser hören zu können, die Haare zurück. Indem trat Leander in den großen Saal des Palastes, das kleine rote Hütchen auf dem Kopfe; Niemand also konnte ihn sehen. Kaum bemerkte er den lauschenden Wüterich, so nahm er einen Hammer und einen Nagel und nagelte ihm das Ohr mit einem Schlag an die Tür.
Der Prinz geriet in die äußerste Wut, schlug wie wahnsinnig an die Tür und schrie aus Leibeskräften. Als die Königin sein Geschrei vernahm, eilte sie herbei, die Tür zu öffnen, und riss dabei das Ohr ihres Sohnes vollends ab.
Er blutete, als ob man ihm die Kehle abgeschnitten hätte und zog ein jämmerliches Gesicht. Die Königin, ganz untröstlich, nahm ihn auf den Schoß, küsste ihn und suchte ihm das Ohr, so gut es ging, wieder anzudrücken und zu verbinden. Leander aber ergriff eine Hand voll Ruthen, mit denen man die jungen Hündchen des Königs züchtigte, und schlug die Königin damit einige Mal tüchtig auf die Hände, so dass sie aus hellem Halse schrie, man bringe sie um, man bringe sie um!
Der König kam dazu, alle Welt lief herbei, aber man sah nichts und raunte sich ganz leise ins Ohr, die Königin müsse wahnsinnig geworden sein vor lauter Schmerz über das abgerissene Ohr ihres Wüterichs.
Der König war der Erste, der dies glaubte, und wich ihr aus, sobald sie sich ihm nähern wollte; es war ein höchst drolliger Auftritt. Endlich versetzte noch der gute Kobold Wüterich eine gehörige Anzahl Hiebe, verließ sodann das Zimmer und begab sich in den Garten.
Dort pflückte er, nachdem er sich wieder sichtbar gemacht hatte, ganz keck die Kirschen, Aprikosen, Erdbeeren und Blumen von den Beeten der Königin. Sie pflegte dieselben ganz allein zu begießen, und es war bei Todesstrafe verboten, sie nur anzurühren. Ganz bestürzt eilten die Gärtner herbei und meldeten ihren Majestäten, Prinz Leander verwüste die Fruchtbäume und den Blumengarten.
„Welch' eine Frechheit!“, schrie die Königin; „mein kleiner Wüterich, mein einziges Püppchen, vergiss einen Augenblick dein böses Ohr, lauf hin und züchtige den Bösewicht; nimm unsere Leibwache, unsere Bedienten, stell' dich an ihre Spitze, fall' über ihn her und hau' ihn in kleine Stücke."
So durch seine Mutter ermutigt und von einer großen Schar Bewaffneter begleitet, langte Wüterich in dem Garten an. Leander, der sich gütlich tat, empfing ihn mit einem großen Apfel, der ihm den Arm zerquetschte und begrüßte seine Begleitung mit mehr als hundert Pomeranzen. Man eilte auf Leander zu, aber schon in dem nämlichen Augenblick sah man ihn nicht mehr. Er stand schon hinter Wüterich, der sich von dem Apfelwurf sehr übel befand, und zog ihm einen Strick um die Beine — da lag Wüterich mit einmal auf der Nase. Man hob ihn auf und brachte ihn in einem erbärmlichen Zustande zu Bett.
Mit dieser Rache zufrieden, kehrte Leander an den Ort zurück, wo seine Leute ihn erwarteten. Er beschenkte sie und schickte sie auf sein Schloss zurück, denn er wollte auf seinen Reisen Niemand mit sich nehmen, damit die Geheimnisse des roten Hütchens und der Rosen nicht bekannt würden.
Er hatte sich noch nicht bestimmt, wohin er reisen wollte, bestieg also sein schönes Ross Lichtblau und ließ es aufs Geratewohl in die Welt traben. So durchzog er Felder, Wälder, Täler und Berge ohne Zahl und Namen, ruhte sich von Zeit zu Zeit aus und aß und schlief, ohne irgendetwas Merkwürdiges anzutreffen.
Endlich gelangte er in einen Wald und da es sehr heiß war, so stieg er ab, um sich ein wenig im Schatten zu erholen.
Kaum hatte er wenige Augenblicke hier verweilt, so hörte er Seufzer und Schluchzen. Er sah sich überall um und erblickte einen Menschen, der bald lief, bald stehen blieb, bald schrie und bald schweigend sich die Haare ausriss und die Brust zerschlug, so dass Leander nicht zweifelte, dieser Unglückliche sei wahnsinnig geworden. Der arme Mensch schien ihm jung und wohlgebildet; seine Kleidung, obwohl ganz zerrissen, zeigte von ihrer ehemaligen Pracht.
Leander, von Mitleid ergriffen, näherte sich ihm und bot ihm seine Hülfe an.

„Ach! gnädiger Herr“, erwiderte der Jüngling, „für mein Unglück gibt es keine Hülfe mehr. Ein Mädchen, welches ich aufs Zärtlichste liebe, soll heute mit einem alten, eifersüchtigen Mann verheiratet werden, der freilich sehr reich ist, sie aber gleichwohl zur unglücklichsten Person von der ganzen Welt machen wird."
„Liebt sie euch denn?“, fragte Leander.
„Ich darf es wohl überzeugt sein“, erwiderte er.
„Und wo hält sie sich auf?“, fragte Leander weiter.
„In einem Schlosse am Ausgange dieses Waldes."
„Nun gut, so erwartet mich hier“, versetzte Leander, „ich denke euch in Kurzem angenehme Nachrichten zu hinterbringen."
Zugleich setzte er den kleinen roten Hut auf und wünschte sich in das Schloss. Er war noch auf dem Wege dahin, so vernahm er schon eine anmutige Musik. Als er hinkam, war alles voll von Lärm und Jubel und dem Schall der Instrumente. Er trat in einen großen Saal, der mit den Verwandten und Freunden des Bräutigams und der Braut angefüllt war. Es konnte nichts Reizenderes geben, als das junge Mädchen, aber die Blässe ihrer Wangen, die Schwermut, die sich auf ihrem Gesicht malte, und die Tränen, die sich ihr bisweilen aus den Augen drängten, verrieten nur zu sehr den Zustand ihres Herzens.
Leander blieb unsichtbar in einem Winkel verborgen, um die Anwesenden kennen zu lernen. Er hörte, wie die Eltern dieses hübschen Mädchens sie heimlich schalten, dass sie so traurig aussehe. Leander stellte sich hierauf hinter die Mutter und sagte ihr leise ins Ohr: „Wenn du deine Tochter zwingst, ihre Hand diesem alten Affen zu geben, so sollst du noch binnen acht Tagen zur Strafe dafür des Todes sein."
Die Frau schrie laut auf und sank zu Boden vor Entsetzen, eine Stimme zu hören, ohne zu sehen, von wem sie käme; noch weit mehr aber erschreckte sie die Drohung, welche sie vernommen hatte. Ihr Mann trat rasch hinzu und fragte, was ihr denn fehle. Sie würde des Todes sein, versetzte sie, wenn die Heirat ihrer Tochter vor sich ginge und sie wolle dies für alle Schätze der Welt nicht zugeben.
Ihr Mann lachte nur darüber, und behandelte sie wie eine Närrischgewordene; aber Kobold näherte sich ihm und sagte: „Du alter Ungläubiger, wenn du deiner Frau nicht glaubst, so wird es dich dein Leben kosten. Hebe sogleich die Verbindung deiner Tochter auf und gib sie ohne Verzug Dem, der sie liebt."
Diese Worte brachten eine wunderbare Wirkung hervor. Man schickte sogleich den alten Bräutigam fort, und zwar, wie man sagte, auf den ausdrücklichen Befehl des Himmels. Er wollte dies anfangs bezweifeln und sich nicht zufrieden geben, aber Kobold schrie ihm ein so fürchterliches Hu, Hu ins Ohr, dass jener auf der Stelle taub zu werden meinte, und zu guter letzt trat Leander noch dermaßen auf seine gichtischen Füße, dass er vor Schmerz außer sich geriet und so rasch er nur konnte, aus einem solchen Hause forthumpelte.
Nun schickte man sogleich in den Wald, um den Jüngling aufzusuchen, der noch immer wie ein Verzweifelter umherirrte. Leander erwartete ihn mit einer Ungeduld, die nur von der des jungen Mädchens übertroffen wurde. Die Liebenden waren überglücklich. Das Fest, welches man zu der Hochzeit des Greises veranstaltet hatte, diente jetzt zu der des jungen Paares, und Leander, der seine natürliche Gestalt wieder annahm, erschien plötzlich an der Tür des Saales wie ein Fremder, den das Geräusch des Festes herbeigezogen. Sobald der Bräutigam ihn erblickte, eilte er auf ihn zu und warf sich zu seinen Füßen, indem er sich auf alle Weise bemühte, ihm seine Dankbarkeit auszudrücken. Zwei Tage brachte Leander sehr vergnügt auf diesem Schlosse zu und verließ es nur mit Bedauern.
Er setzte hierauf seine Reise fort und gelangte in eine große Stadt, in welcher eine Königin residierte, die ihre Freude daran fand, die schönsten Personen ihres Königreichs am Hofe zu haben. Leander ließ sich den prächtigsten Wagen machen, den man jemals hier gesehen hatte, und er konnte das wohl, denn er durfte ja nur die Rose schütteln, so hatte er Geld in Überfluss. Da er schön, jung und geistreich war und mit so großem Glanze auftrat, so kann man leicht denken, dass ihn die Königin und ihre Damen mit aller nur möglichen Auszeichnung empfingen.
Unter den Hoffräulein der Königin bemerkte Leander eine, welche man Schönblondchen nannte. Sie war sehr schön, aber dabei so kalt und ernsthaft, dass Leander, welcher ihr zu gefallen wünschte, gar nicht wusste, wie er dies anfangen solle.

Er veranstaltete alle Abend ihr zu Ehren prachtvolle Feste, Bälle und Schauspiele, beschenkte sie mit den seltensten Kostbarkeiten, die er von weit und breit kommen ließ, aber nichts machte Eindruck auf sie. Je gleichgültiger sie erschien, desto mehr bemühte sich Leander, ihr zu gefallen. Um sich Indes zu überzeugen, ob er nicht etwa einen glücklicheren Nebenbuhler habe, beschloss er, einen Versuch mit seiner Rose zu machen. Er hielt sie scherzend Schönblondchen ans Herz und siehe da, die Blume, vorher noch frisch und glänzend, schrumpfte plötzlich welk zusammen.
Diese Entdeckung war Leandern sehr empfindlich; um sich mit eignen Augen zu überzeugen, wünschte er sich an demselben Abend noch in Schönblondchens Zimmer.
Nicht lange, so sah er einen ganz erbärmlichen Sänger hereintreten, welcher drei oder vier Verse, die er für Schönblondchen gemacht und deren Melodie und Worte abscheulich waren, auf die widerlichste Weise hergurgelte. Schönblondchen aber ergötzte sich daran, wie an dem schönsten Gesang von der Welt. Er machte Gebärden wie ein Besessener; sie fand alles wunderschön, so närrisch war sie für ihn eingenommen, und endlich reichte sie ihm gar zur Belohnung die Hand zum Kuss.
Außer sich vor Zorn stürzte Leander auf den unverschämten Musikanten los, stieß ihn nach einem Balkon und stürzte ihn in den Garten hinunter, wobei er sich seine übrigen Zähne noch vollends ausschlug.
Schönblondchen war wie vom Blitz getroffen, sie glaubte nicht anders, es müsse ein böser Geist hierbei im Spiele sein.
Leander verließ das Zimmer, ohne sichtbar zu werden, und kehrte sogleich nach Hause zurück, dankte seine Dienerschaft ab, indem er sie reichlich belohnte, schwang sich auf seinen treuen Lichtblau und kehrte der Stadt den Rücken.
Er entfernte sich mit der größten Schnelligkeit und gelangte so nach einiger Zeit in eine andere Stadt; dort erfuhr er, dass eben eine große Feierlichkeit vor sich gehen werde, weil ein junges Mädchen das Gelübde ewiger Keuschheit ablegen und zur Vestalin geweiht werden sollte, obgleich gegen ihre Neigung und Willen.
Der Prinz empfand Mitleid mit dem armen Mädchen und es schien fast, als ob sein kleiner roter Hut dazu bestimmt sei, den Traurigen und Hilfsbedürftigen Trost und Beistand zu bringen. Er eilte in den Tempel und sah dort das junge Mädchen in einem weißen Gewande, mit Blumen bekränzt. Zwei von ihren Brüdern führten sie an der Hand und die Mutter folgte ihr mit einer großen Schar von Männern und Frauen, während die älteste der Vestalinnen sie an der Tür des Tempels erwartete.
Plötzlich erhob Kobold seine Stimme und rief aus Leibeskräften: „Haltet ein, haltet ein, ihr lieblosen Brüder und du, törichte Mutter, der Himmel widersetzt sich diesem erzwungenen Opfer. Noch einen Schritt und ihr werdet in tausend Stücke zerschmettert."
Man sah sich nach allen Seiten um, woher diese schrecklichen Drohungen kämen, bemerkte aber nichts. Die Brüder sagten, es müsse wohl der Geliebte ihrer Schwester sein, der sich irgendwo verborgen hätte, um so das Orakel zu spielen; Kobold aber ergriff zornig einen dicken Stock und versetzte ihnen damit mehr als ein Dutzend hageldichte Schläge. Man sah den Stock sich emporheben und auf ihre Schultern niederfallen, wie einen Hammer auf einen Amboss, so dass man an der Wirklichkeit der Streiche nicht zweifeln konnte. Die Vestalinnen, von Schrecken ergriffen, flohen nach allen Richtungen und alle Übrigen taten desgleichen, so dass Kobold mit dem jungen Mädchen allein blieb. Er nahm rasch sein Hütchen ab und fragte sie, ob er ihr irgendwie dienen könne. Das Mädchen erwiderte mit mehr Unerschrockenheit, als man von ihrer Jugend hätte erwarten sollen, sie liebe einen jungen Edelmann, der sich um ihre Hand beworben hätte, aber den Ihrigen zu arm gewesen sei. Sogleich schüttelte Leander die Rose der Fee Wunderhold und schenkte ihr eine Million zum Brautschatz, worauf sie sich verheirateten und sehr glücklich lebten.
Aber das letzte Abenteuer, welches Leander bestand, war das angenehmste. Beim Eintritt in einen großen Wald hörte er das Angstgeschrei einer weiblichen Stimme. Er sah sich nach allen Seiten um und erblickte endlich vier bewaffnete Männer, die ein Mädchen von etwa fünfzehn Jahren mit Gewalt fortschleppten. Er eilte rasch auf sie los und rief ihnen zu: „Was hat euch dieses Mädchen getan, dass ihr es so wie eine Sklavin behandelt?"
„Ho, ho“, mein junges Herrchen“, versetzte der Ansehnlichste von ihnen, „was kümmert ihr euch um Dinge, die euch nichts angehen?"
„Ich befehle euch“, sprach Leander, sie unverzüglich frei zu lassen."
„O ja doch, gleich, wartet nur ein bisschen“, versetzten sie lachend.
Der Prinz sprang vom Pferde und setzte das rote Käppchen auf, denn er hielt es nicht für ratsam, ganz allein vier Männer anzugreifen, die stark genug schienen, um zwölf in die Flucht zu schlagen. Kaum hatte er fein Hütchen auf dem Kopfe, so war er auch wie gewöhnlich unsichtbar; die Räuber sagten: „Er ist davon gelaufen; es lohnt nicht der Mühe, ihn zu verfolgen, wir wollen nur sehen, dass wir sein schönes Pferd bekommen."
Während nun Drei dem Lichtblau nachliefen, der sie nicht wenig in Atem setzte, blieb Einer als Wache bei dem jungen Mädchen zurück. Diese schrie und jammerte in einem fort.
„Ach, meine schöne Prinzessin“, rief sie, „wie glücklich war ich in eurem Palaste, wie werd' ich die Entfernung von euch ertragen können! wenn ihr mein trauriges Geschick wüsstet, würdet ihr eure Amazonen der armen „Abrikotine" zu Hülfe schicken."
Leander, der alles wahrnahm, ergriff unverzüglich den Arm des Räubers, welcher zu ihrer Bewachung zurückgeblieben war und band ihn an einen Baum, ohne dass Jener Zeit oder Kraft gehabt hätte, sich zu verteidigen, denn er sah nicht einmal Den, welcher ihn wehrlos machte.
Auf sein Geschrei kam einer seiner Spießgesellen ganz atemlos herbeigelaufen und fragte ihn, wer ihn da angebunden habe.
„Das weiß ich selbst nicht“, erwiderte Jener, „ich habe keine Menschenseele gesehen."
„Das sagst du nur, um dich zu entschuldigen“, versetzte der andere, „aber ich weiß lange, dass du eine Memme bist, wart', ich will dich behandeln, wie du's verdienst“, und damit zählte er ihm eine gehörige Tracht Prügel auf. Dieser Auftritt machte Leandern vielen Spaß; er näherte sich hierauf dem zweiten Räuber, fasste ihn beim Arm und band ihn fest, gegenüber von seinem Kameraden.
Dieser sah dies nicht sobald, als er ihm zurief: „Wie nun, du tapferer Held, wer hat denn dich da angebunden? bist du nicht eine rechte Memme, dass du's gelitten hast?"
Der andere sagte kein Wort dazu und sah ganz beschämt auf die Erde, ohne sich erklären zu können, wie er angebunden worden sei, da er doch Niemanden gesehen hatte.

Abrikotine benutzte Indes diesen Augenblick zur Flucht, ohne zu wissen, wohin. Leander, der sie nicht mehr sah, rief dreimal nach seinem Lichtblau, der kaum die Stimme seines Herrn vernahm, als er mit zwei Hufschlägen sich von beiden Räubern befreite und damit dem einen den Kopf, dem andern drei Rippen zerschlug. Nun war nur noch Abrikotine wieder aufzusuchen, die dem Prinzen ungemein gefallen hatte. Unverzüglich wünschte er sich zu ihr hin und sogleich war er dort. Er fand sie so müde, dass sie sich an jeden Baum lehnte, weil sie sich vor Müdigkeit nicht mehr aufrecht halten konnte. Als sie Lichtblau bemerkte, der so lustig einhertrabte, rief sie: „O wie schön, da ist ein hübsches Pferd, welches Abrikotine in den Freuden-Palast zurückbringen wird."
Kobold hörte sie wohl, aber sie sah ihn nicht. Er näherte sich ihr, Lichtblau blieb stehen und sie schwang sich hinauf. Leander nahm sie in seine Arme und setzte sie sanft vor sich hin. O welche Furcht empfand Abrikotine, als sie sich umschlungen fühlte und niemanden gewahr wurde. Sie wagte nicht, sich zu rühren, schloss die Augen aus Furcht, einen Geist zu sehen und sagte kein Sterbenswörtchen. Der Prinz, welcher die Taschen voll Zuckerwerk hatte, wollte ihr etwas davon in den Mund stecken, sie schloss aber die Zähne und die Lippen fest zusammen.
Endlich nahm er sein Hütchen ab und sagte zu ihr: „Wie furchtsam bist du, Abrikotine, dich so vor mir zu fürchten! ich bin es ja, der dich aus den Händen der Räuber errettet hat."
Sie schlug die Augen auf und erkannte ihn. „Ach, gnädiger Herr“, rief sie, ihr seid es, dem ich alles verdanke? Ich empfand freilich große Furcht, bei einem unsichtbaren Wesen allein zu sein."
„Ich war nicht unsichtbar“, erwiderte er, eure Augen müssen euch einen Streich gespielt haben, dass ihr mich nicht gesehen habt."
Abrikotine glaubte es, obwohl sie sonst eben nicht einfältig war. Nachdem sie sich hierauf eine Zeitlang von gleichgültigen Dingen unterhalten hatten, fragte Leander sie nach ihrem Alter, ihrer Heimat und wie sie den Räubern in die Hände gefallen wäre.
„Ich bin euch zu sehr verpflichtet“, sagte Abrikotine, um eure Neugier nicht zu befriedigen. Ich bitte euch nur, weniger auf meine Erzählung zu achten, als unsere Reise zu beschleunigen."
„Eine Fee, deren Wissenschaft sonder Gleichen ist, fasste eine so heftige Neigung zu einem Prinzen, dass sie sich mit ihm vermählte, zum großen Ärger aller übrigen Feen, die ihr unaufhörlich vorstellten, welche Schmach sie ihnen durch ein solches Zeichen von Schwäche antue. Ihr Unwille ging so weit, dass sie sie länger nicht unter sich dulden wollten, und so blieb der Fee nichts anders übrig, als dass sie sich in der Nähe des Feenreiches einen großen Palast baute."
„Indes der Prinz, welcher sie geheiratet hatte, wurde bald ihrer überdrüssig. Er war in Verzweiflung darüber, dass sie alles, was er nur irgend tat, sogleich mit Hilfe ihrer Kunst erriet, so dass, wenn er nur die geringste Zuneigung zu einer andern Dame fasste, sie ihm die heftigsten Vorwürfe machte und die hübschesten Mädchen in wahre Scheusale verwandelte."
„Der Prinz, welchem ein solches Übermaß von Zärtlichkeit äußerst lästig wurde, nahm eines Tages Postpferde und fuhr in die weite, weite Welt. Er versteckte sich in eine Höhle im Grund eines Berges, damit die Fee ihn nicht finden solle. Allein sie fand ihn doch und beschwor ihn, zu ihr zurückzukehren, versprach ihm Geld, Pferde, Hunde und Waffen und was er sonst nur irgend wünschen möchte."
„Es half aber alles nichts, denn er war von Natur starrsinnig und liebte die Ungebundenheit. Er sagte ihr nichts als Grobheiten und nannte sie eine alte Hexe, eine Vogelscheuche."
„Du kannst dich glücklich schätzen“, entgegnete sie ihm, „dass ich vernünftiger bin, als du, denn wenn ich wollte, so könnt' ich dich in eine Katze verwandeln oder in eine hässliche Kröte, in einen Kürbis, in eine Eule: aber die größte Strafe, die ich dir auferlegen kann, ist die, dass ich dich deinem Eigensinn überlasse. Bleib' nur in deiner dunkeln Höhle, in deinem Loch bei den Bären; ruf' nur die Schäferinnen aus der Nachbarschaft zu dir, du wirst mit der Zeit schon erkennen lernen, welch' ein Unterschied ist zwischen Bauerdirnen und einer Fee, wie ich, die sich so schön machen kann, wie sie immer will."
„Sie stieg sogleich wieder in ihren fliegenden Wagen und eilte schneller davon, als ein Vogel. Sobald sie zurückgekehrt war, versetzte sie ihren Palast an einen andern Ort, entließ ihre männlichen Wachen und Offiziere und nahm, statt ihrer, Frauen aus dem Amazonengeschlecht in ihren Dienst, welche aufs Sorgfältigste darüber wachen mussten, dass kein Mann diese Insel betrete. Sie nannte diesen Ort „die Insel stiller Freuden", denn wahre Freuden, pflegte sie oft zu sagen, könne man nicht genießen, wenn man in der Gesellschaft von Männern lebe. Ganz nach dieser Ansicht erzog sie auch ihre Tochter. Dies ist die Prinzessin, der ich diene; sie ist die schönste Dame, die es je gegeben hat, und da bei ihr nur die Freude herrscht, so altert man in ihrem Palast nicht. Ich bin, so wie ihr mich seht, mehr als zweihundert Jahr alt. Als meine Gebieterin herangewachsen war, überließ ihr die Fee, ihre Mutter, die Insel, gab ihr treffliche Lehren, wie sie glücklich leben könne und kehrte in das Feenreich zurück, seit welcher Zeit die Prinzessin der Insel stiller Freuden ihren Staat auf bewundernswürdige Weise regiert."

„Ich erinnere mich nicht, dass ich in meinem ganzen Leben andere Männer gesehen habe, als euch und die Räuber, welche mich entführten. Diese Bösewichte! sagten mir, sie seien von einem hässlichen Zwerge, Namens Wüterich, ausgeschickt, der sich in meine Gebieterin bloß auf ihr Bildnis hin verliebt habe. Sie umstreiften lange Zeit die Insel, wagten es aber nicht, sie zu betreten, denn unsere Amazonen sind zu wachsam, um Jemand durchzulassen. Zum Unglück aber ließ ich, der die Sorge für die Vögel der Prinzessin übertragen ist, eines Tages ihren Lieblingspapagei fortfliegen, und aus Furcht, ausgescholten zu werden, wagte ich mich unklugerweise über die Grenzen hinaus, um ihn aufzusuchen. Die Räuber erwischten mich und hätten mich ohne eure edelmütige Hülfe mit sich fortgeführt."
„Wenn ihr irgend eine Erkenntlichkeit für mich fühlt, schöne Abrikotine“, sagte Leander, „darf ich da nicht hoffen, dass ihr mir behilflich seid, diese Insel der stillen Freuden zu betreten und eure Gebieterin, die wunderbare, nie alternde Prinzessin zu sehen?"
„Ach, gnädiger Herr“, versetzte Abrikotine, „wir wären Beide verloren, wenn wir so Etwas wagten. Es muss euch ja wohl ein Leichtes sein, ein Gut zu entbehren, welches ihr noch nicht kennt. Ihr seid noch nicht in dem Palaste gewesen, stellt euch also vor, dass er gar nicht vorhanden sei."
„Es ist nicht so leicht, wie ihr glaubt“, erwiderte der Prinz, „aus dem Gedächtnis Etwas zu verwischen, was unsere Phantasie angenehm beschäftigt hat. Auch kann ich nicht zugeben, dass es ein sicheres Mittel zum Genus wahrer Freuden fei, unser Geschlecht gänzlich zu verbannen."
„Es kommt mir nicht zu, darüber zu entscheiden“, versetzte Abrikotine; „ich gestehe selbst, wenn alle Männer euch glichen, so möchte die Prinzessin das Gesetz immerhin widerrufen: aber von Fünfen, die ich gesehen habe, sind Vier Bösewichte! gewesen und ich muss daraus wohl schließen, dass es mehr böse als gute gibt, und folglich ist es besser, die Gemeinschaft mit allen zu fliehen."
Unter diesem Gespräch gelangten sie an das Ufer eines breiten Stromes, woselbst Abrikotine leicht vom Pferde sprang und indem sie dem Prinzen eine tiefe Verbeugung machte, zu ihm sagte: „Lebt wohl, gnädiger Herr! Ich wünsche euch so viel Glück, dass die ganze Welt für euch die Insel der Freuden sei; aber entfernt euch schleunig, damit unsere Amazonen euch nicht gewahr werden."
„Und ich, schöne Abrikotine“, erwiderte der Prinz, „ich wünsche, nicht gänzlich von euch vergessen zu werden."
Mit diesen Worten entfernte er sich und begab sich tief in das Dickicht eines Waldes, der sich in der Nähe des Flusses befand. Dort nahm er seinem Lichtblau Sattel und Zaum ab, damit er nach Belieben auf dem frischen Grase weiden könne, setzte sich das rote Hütchen auf und wünschte sich nach der Insel der stillen Freuden. Sein Wunsch ward auf der Stelle erfüllt und er befand sich an dem schönsten, wunderbarsten Orte der ganzen Welt.
Der Palast war von reinem Golde und wurde von Figuren aus Kristall und Edelsteinen getragen, welche den Tierkreis und alle Wunder der Natur, die Wissenschaften und Künste, die Elemente, das Meer mit seinen Fischen, die Erde mit ihren Tieren, die edlen Übungen der Amazonen, die Freuden des Landlebens, Schäferinnen mit ihren Herden und Hunden, ländliche Arbeiten, den Ackerbau, die Ernte, Gärten, Blumen und Bienen vorstellten. Aber unter so tausend mannigfaltigen Dingen sah man doch nirgends die Gestalt irgendeines Mannes oder auch nur eines Knaben.
„Abrikotine hat mich nicht getäuscht“, sagte der Prinz bei sich, „es ist alles so, wie sie gesagt. Man hat an diesem Orte jede Erinnerung an uns verbannt."
Er betrat hierauf den Palast und stieß bei jedem Schritt auf so viel Wunderbares, dass er die Augen kaum wieder davon abwenden konnte. Gold und Diamanten überraschten hier nicht allein durch ihre Kostbarkeit, sondern mehr noch durch die geschmackvolle Art und Weise, wie man sie angebracht hatte. Überall erblickte er junge Mädchen von sanftem, unschuldigem, fröhlichem Aussehen und schön wie der junge Tag. Leander ging durch eine lange Reihe von Sälen; die einen waren mit köstlichen chinesischen Gefäßen gefüllt, deren eigentümlicher Geruch nebst ihren seltsamen Farben und Formen so viel Vergnügen macht. Die Mauern an-' derer bestanden aus so feinem Porzellan, dass das helle Tageslicht durchschien, wieder andere waren aus geschliffenem Kristall, aus Bernstein, Korallen, Lapislazuli, Agat und Karneol; das Zimmer der Prinzessin aber bestand aus lauter großen Spiegelgläsern, denn ein so lieblicher Gegenstand konnte nicht oft genug vervielfältigt werden.
Ihr Thron war aus einer einzigen, muschelartig geschnittenen Perle verfertigt und mit Armleuchtern von Rubinen und Diamanten umgeben. Aller dieser Schimmer aber verschwand vor der unvergleichlichen Schönheit der Prinzessin. Ihr kindliches Wesen vereinigte alle Anmuht der Jugend mit der feinen, sichern Bewegung eines späteren Alters. Nichts kam der Sanftheit und Lebhaftigkeit ihrer Augen gleich. Genug, es war unmöglich, irgendeinen Mangel an ihr zu finden. Mit holdseligem Lächeln dankte sie ihren Ehrendamen, welche sich heut', um ihr eine Überraschung zu machen, als Nymphen verkleidet hatten.
Da sie Abrikotine vermisste, so fragte sie nach ihr. Die Nymphen antworteten, sie hätten sie vergebens überall gesucht, aber nirgends gefunden.

Leander, welcher der Luft zu sprechen nicht widerstehen konnte, ahmte die Stimme eines Papageien nach, deren sich mehrere im Zimmer befanden und sagte: „Reizende Prinzessin, Abrikotine wird bald wiederkehren. Sie war nahe daran, entführt zu werden, wenn ihr ein junger Prinz nicht zu Hülfe kam."
Die Prinzessin war von dem, was der Papagei zu ihr sagte, ganz überrascht.
„Du plauderst ganz artig, mein kleiner Papagei“, sprach sie zu ihm, „du wirst dich aber doch wohl geirrt haben, und wenn Abrikotine zurückkommt, so wird sie dir die Rute geben."
„Sie wird mir nicht die Rute geben“, erwiderte Kobold, indem er noch immer die Stimme des Papageien nachahmte, „sie wird euch vielmehr erzählen, wie große Lust der fremde Prinz hatte, diesen Palast zu betreten, um euch zu zeigen, wie großes Unrecht ihr seinem Geschlecht antut."
„Fürwahr, Papagei“, rief die Prinzessin aus, „es ist Schade, dass du nicht immer so gesprächig bist, ich würde dich dann recht lieb gewinnen."
„Ach“, erwiderte Prinz Kobold, „wenn ich nur zu plaudern brauche, um mir eure Gunst zu erwerben, so werd' ich keinen Augenblick mehr zu schwatzen aufhören."
„Sollte man aber nicht schwören“, fuhr die Prinzessin fort, „dieser Papagei sei ein Hexenmeister?" In diesem Augenblick trat Abrikotine ins Zimmer und warf sich ihrer schönen Gebieterin zu Füßen. Sie teilte ihr sodann ihr Abenteuer mit und entwarf ihr das Bildnis des Prinzen mit den lebhaftesten und vorteilhaftesten Farben.
„Ich würde“, fügte sie hinzu, „vor wie nach alle Männer hassen, wenn ich diesen nicht gesehen hätte. Ach, er ist so liebenswürdig! Sein Äußeres, sein ganzes Benehmen hat so etwas Edles und Geistreiches! Gleichwohl mein' ich recht getan zu haben, dass ich ihn nicht hierher brachte."
Die Prinzessin erwiderte nichts darauf, fuhr aber fort, Abrikotine über den Prinzen auszufragen, ob sie nicht seinen Namen, seine Heimat, seine Geburt wisse, woher er käme, wohin er ginge — und versank dann in tiefes Nachdenken.
Kobold beobachtete alles und fuhr darauf zu sprechen fort, wie er angefangen hatte. „Abrikotine ist eine Undankbare“, sagte er, dieser arme Fremde wird vor Kummer sterben, dass er euch nicht sehen darf."
„Mag er sterben, Papagei“, erwiderte die Prinzessin seufzend, „dir aber, der du wie ein verständiger Mensch reden willst und nicht wie ein kleiner Papagei, dir verbiet' ich, mir je wieder von diesem Unbekannten zu reden."
Leander war höchst erfreut, dass die Worte Abrikotinens und des Papageis einen solchen Eindruck auf die Prinzessin gemacht hatten. „Ist es möglich“, sagte er bei sich selbst, indem er die Prinzessin mit dem größten Wohlgefallen betrachtete, „dass dieses Meisterwerk der Natur ewig auf einer Insel eingesperrt bleiben soll, ohne dass irgend ein Sterblicher sich ihr zu nahen wagen dürfe?"
„Aber“, fuhr er fort, „mögen doch alle andern Männer von hier verbannt sein, da ich ja das Glück habe, mich in ihrer Nähe aufhalten, sie sehen, hören, bewundern und lieben zu können."
Es war schon spät; die Prinzessin begab sich in einen Saal von Marmor und Porphyr, wo mehrere Springbrunnen eine angenehme Kühlung verbreiteten. Sowie sie hin eintrat, begann eine herrliche Musik und ein köstliches Abendmahl wurde aufgetragen. Längs den Seiten dieses Saales befanden sich große Vogelhäuser, voll der seltensten Vögel, deren Pflege Abrikotinen übertragen war.
Leander hatte auf seinen Reisen gelernt, den Gesang der Vögel nachzuahmen und ahmte jetzt sogar einige Arten nach, die sich nicht hier befanden. Die Prinzessin horchte auf, sah sich um, war ganz verwundert, stand von der Tafel auf und ging zu den Vögeln. Kobold sang hierauf noch viel anmutiger und lauter und indem er die Stimme eines Kanarienvogels annahm, aus dem Stegreif ein kleines sehr artiges Gedicht.
Die Prinzessin, noch viel mehr erstaunt, ließ Abrikotine rufen und fragte sie, ob sie einen von den Kanarienvögeln singen gelehrt hätte.
Sie verneinte dieses zwar, meinte aber, ein Kanarienvogel könne wohl eben so viel Verstand besitzen, als ein Papagei. Die Prinzessin lächelte und bildete sich gleichwohl ein, Abrikotine müsse dem Vögelchen Unterricht gegeben haben. Hierauf setzte sie sich wieder zur Tafel, um ihr Abendbrot zu beendigen.
Leander hatte sich an diesem Tage hinlängliche Bewegung gemacht, um einen guten Appetit zu haben. Er näherte sich daher der Tafel, deren Duft allein schon erquickend war.

Nun besaß die Prinzessin eine blaue Katze, welche sie sehr liebte; eine von ihren Ehrendamen hielt dieselbe auf dem Schoß. „Gnädige Prinzessin“, sagte sie, „Blauhaar hat Hunger." Hierauf setzte man die Katze an die Tafel, wo ihr ein kleiner goldner Teller vorgesetzt wurde, auf welchem sich eine zierlich zusammengelegte Serviette befand. Die Katze hatte ein Halsband von Perlen und eine goldne Schelle und fing nun an, tüchtig zu schmausen.
„Hoho“, sagte Kobold bei sich selbst, „ein dicker blauer Kater, der vielleicht nie Mäuse gefangen hat und sicherlich nicht von besserer Herkunft ist, als ich, hat die Ehre, mit der schönen Prinzessin zu speisen! Ich möchte wohl wissen, ob er sie ebenso liebt wie ich und ob es billig ist, dass ich mich mit dem Geruch begnüge, während er so köstliche Bissen speist?"
Hierauf nahm er die blaue Katze ganz leise fort von dem Lehnstuhl, setzte sich hinein und nahm die Katze auf den Schoß. Kobold wurde von Niemanden gesehen; wie wäre dies auch möglich gewesen? Er hatte ja das rote Hütchen auf.
Die Prinzessin legte Indes junge Rebhühner, Wachteln und Fasanen auf den Teller Blauhaars, und Rebhühner, Wachteln und Fasanen verschwanden in einem Augenblick, so dass der ganze Hof sagte: „Blaubart hat noch nie einen solchen Appetit gezeigt." Es befanden sich auch auf der Tafel herrliche Ragouts. Kobold ergriff eine Gabel und indem er den Fuß der Katze festhielt, versuchte er die Ragouts. Oft drückte er die Pfote ein wenig zu sehr und dann schrie und miaute Blauhaar jämmerlich und wollte kratzen.
Als die Prinzessin dies bemerkte, sagte sie: „Gebt doch dem armen Blauhaar diese Torte und dieses Frikassee; seht doch einmal, wie er schreit, um Etwas davon zu bekommen."
Leander lachte ganz leise über diesen Spaß; aber er hatte auch großen Durst und da er nicht gewohnt war, so lange zu tafeln, ohne zu trinken, fasste er mit der Pfote der Katze eine große Melone und löschte damit ein wenig seinen Durst. Dann, als das Mahl beendet war, eilte er zum Schenktisch und nahm dort zwei Flaschen von einem nektargleichen Weine.
Die Prinzessin begab sich in ihr Zimmer, sie hieß Abrikotinen folgen und die Tür schließen. Kobold schlich ihnen auf dem Fuß nach und befand sich ungesehen in dem Gemach.
„Gesteh' nur“, sprach die Prinzessin zu ihrer Vertrauten, „du hast in der Schilderung jenes Unbekannten übertrieben, er kann unmöglich so liebenswürdig sein, wie du sagtest."
„Ich beteure euch, gnädige Prinzessin“, erwiderte Abrikotine, „dass ich nicht nur nicht zu viel, sondern vielmehr bei weitem zu wenig gesagt habe."
Die Prinzessin schwieg einen Augenblick und seufzte. „Ich danke dir gleichwohl“, fuhr sie fort, dass du ihn nicht mitgebracht hast."
„Aber, gnädige Prinzessin“, versetzte Abrikotine, welche schlau genug war, um die Gedanken ihrer Gebieterin zu durchschauen, „wenn er nun hergekommen wäre, die Wunder dieser herrlichen Insel anzustaunen, was hätte das euch schaden können? Wollet ihr in einem Winkel der Welt ewig unbekannt bleiben, verborgen den übrigen Sterblichen? Wozu dient euch so viel Größe, so viel Pracht und Herrlichkeit, wenn sie von Niemand gesehen wird?"
„Schweig', schweig', du kleine Schwätzerin“, sagte die Prinzessin, „und störe nicht die glückliche Ruhe, die ich seit sechshundert Jahren genieße. Glaubst du, dass, wenn ich ein unruhiges, geräuschvolles Leben führte, ich so alt geworden war'? Nur schuldlose, stille Freuden können unser Dasein so verlängern. Haben wir nicht in unsern Geschichtsbüchern von den Umwälzungen der größten Reiche gelesen, von den unsichern Launen eines unbeständigen Glückes, von den Verkehrtheiten der Liebe, den Schmerzen der Trennung, den Qualen der Eifersucht? Was ist die Ursache, all dieses Kummers und all dieser Leiden gewesen? Was anders als der Umgang der Menschen mit einander? Ich bin, Dank sei es der Fürsorge meiner Mutter, von all dergleichen befreit geblieben! Ich kenne nicht Schmerzen, noch vergebliche Wünsche, weder Neid, noch Liebe, noch Hass. Ja, in solcher Ruhe wollen wir immer leben."
Abrikotine wagte nichts zu entgegnen, die Prinzessin hielt einige Augenblicke inne, dann fragte sie, ob sie ihr nichts darauf zu sagen habe.
Abrikotine versetzte, dann wäre es ja aber unnötig gewesen, dass die Prinzessin ihr Bildnis an verschiedene Höfe geschickt hätte, wo es doch nur so Manchen unglücklich machen werde, denn Jeder, der es erblicke, werde das größte Verlangen empfinden, die Prinzessin zu sehen, ohne es je befriedigen zu können.
„Gleichwohl gesteh' ich dir“, sagte die Prinzessin, „dass ich den Wunsch hege, mein Bildnis käme in die Hände jenes Unbekannten, dessen Namen ich nicht weiß."
„Wie, gnädige Prinzessin!“, rief Abrikotine, „ist sein Verlangen, euch zu sehen, nicht schon groß genug, und wolltet ihr es noch vermehren?"
„Ja“, erwiderte die Prinzessin, „eine Regung von Eitelkeit, die mir bisher unbekannt gewesen ist, macht mir Luft dazu."
Kobold hörte dies alles mit an, ohne nur ein Wort davon zu verlieren; Manches erweckte schmeichelhafte Hoffnungen in ihm, andere zerstörte sie gänzlich.

Es war schon spät; die Prinzessin begab sich in ihr Schlafgemach und Leander schlüpfte in ein Seitenkabinett, um das Vergnügen zu haben, sie doch reden zu hören. Die Prinzessin fragte eben Abrikotine, ob sie auf ihrer Reise nichts Außerordentliches gesehen hätte.
„O ja“, versetzte sie, „ich bin durch einen Wald gekommen, wo ich Tiere gesehen habe, die fast wie kleine Kinder aussehen; sie hüpfen springen in den Bäumen, wie die Eichhörnchen; ihr Aussehen ist sehr hässlich, aber ihre Geschicklichkeit außerordentlich."
„Ach“, sagte die Prinzessin, „wie gern möchte ich einige von diesen Tieren besitzen; wenn sie nicht so schnell wären, könnte man wohl einige fangen."
Kobold, welcher durch diesen Wald gekommen war, erriet gleich, dass die' Rede von Affen war. Sogleich wünschte er sich dahin, fing ein Dutzend große und kleine Affen von verschiedenen Farben, steckte sie mit vieler Mühe in einen
großen Sack und wünschte sich dann nach Paris, da er gehört hatte, dass man dort für Geld alles haben könne, was man nur wünsche.
Bei einem berühmten Goldschmied kaufte er einen kleinen Wagen ganz von Gold, an den er sechs grüne Affen spannte, mit einem Geschirr von feuerfarbenem Maroquin, mit Gold ausgelegt. Hierauf begab er sich zu einem bekannten Marionettenspieler, von dem er zwei vorzüglich gut abgerichtete Affen kaufte und den einen als König gekleidet in den Wagen setzte, den andern als Kutscher auf den Bock. Die übrigen Affen waren als Pagen angezogen und das Ganze gewährte einen sehr possierlichen Anblick.
Er steckte hierauf den Wagen und die gestiefelten Affen, den König wie die Dienerschaft, wieder in seinen Sack und ehe noch die Prinzessin sich zu Bett gelegt hatte, hörte sie plötzlich in dem Vorzimmer das Geräusch des kleinen Wagens, und ihre Nymphen meldeten ihr die Ankunft des Königs der Zwerge. Zugleich rollte die Karosse mit dem Affenzug in ihr Zimmer.
Kobold leitete das Ganze; zuletzt ließ er den Affenkönig aus seiner kleinen Goldkarosse steigen und der Prinzessin mit sehr gutem Anstande ein mit Diamanten besetztes Kästchen überreichen. Sie machte es auf und fand einige sehr artige Verse darin.
Man kann sich ihr Erstaunen denken. Nun tanzten die beiden Pariser Affen mit einander, die an Geschicklichkeit die berühmtesten Affentänzer ihrer Zeit übertrafen.
Die Prinzessin belustigte sich ungemein daran, und lachte anfangs so sehr, dass sie beinahe Kopfweh bekam; aber unruhig, den Verfasser der Verse nicht erraten zu können, entließ sie die Tänzer früher, als sie es sonst getan hätte. Vergebens strengte sie all ihr Nachdenken an, das so verborgene Geheimnis zu enträtseln.
Leander, hoch erfreut darüber, dass die Prinzessin seine Verse mit so großer Aufmerksamkeit gelesen und die Affen mit so vielem Vergnügen hatte tanzen sehen, dachte nun daran, ein wenig Ruhe zu genießen, deren er freilich sehr bedurfte. Er hielt sich eine Weile in dem großen Vorfall auf und stieg dann hinab.
In dem Erdgeschoß stand eine Tür auf; er trat ganz leise in ein Gemach, welches so schön und anmutig war, wie er noch nie eins gesehen hatte. Es befand sich darin ein prächtiges Bett mit goldbestickten Gardinen von grüner Gaze, die mit Perlenschnüren zierlich aufgebunden waren; die Eicheln bestanden aus Rubinen und Smaragden. Es war schon hell genug, um die außerordentliche Pracht dieses Lagers bewundern zu können. Nachdem Leander die Tür verschlossen, streckte er sich auf das Bett und fiel in einen tiefen Schlaf.
Er erwachte so früh, dass ihm die Zeit, bis wo er die Prinzessin sehen konnte, sehr lang erschien. Da er sich überall umsah, bemerkte er eine zum Malen aufgespannte Leinewand, Pinsel und Farben. Zugleich erinnerte er sich, was die Prinzessin am Abend vorher mit Abrikotinen über ihr Bildnis gesprochen hatte und da er besser malte, als die ausgezeichnetsten Meister, so setzte er sich vor einen großen Spiegel und malte sein Bildnis, wie er mit einem Knie sich auf die Erde stützte, und das Portrait der Prinzessin, deren treues Bild ihm seine lebhafte Phantasie vorspiegelte, in der Hand hielt; in der andern Hand trug er eine Rolle mit den Worten:
„Lebendiger ist sie noch in meinem Herzen."
Wie erstaunt war die Prinzessin, als sie ihr Zimmer betrat, daselbst das Bildnis eines Mannes zu finden. Sie betrachtete es aber mit noch größerem Erstaunen, als sie auch das ihrige erkannte und die Worte auf der Rolle ihrer Neugier und ihrem Nachdenken einen reichen Stoff gaben. Sie war allein, sie verlor sich in Vermutungen; endlich aber kam sie zu der Überzeugung, Abrikotine müsse die Urheberin dieser anmutigen Überraschung sein. Nun wollte sie nur noch wissen, ob das Portrait dieses schönen Jünglings nur ein Werk ihrer Einbildungskraft sei oder ein Original besäße. Sie stand hastig auf und rief Abrikotine herbei. Unterdessen war Kobold, das rote Hütchen auf dem Kopf, bereits im Zimmer, voll Neugier, das Weitere zu hören.

Die Prinzessin hieß Abrikotinen das Bildnis zu betrachten und ihr ihre Meinung darüber zu sagen. Sie hatte es kaum erblickt, so rief sie: „Fürwahr, gnädige Prinzessin, dies ist das Portrait des edelmütigen Fremden, welchem ich das Leben verdanke. Ja. er ist es selbst, dies sind seine Züge, sein Wuchs, seine Haare und sein ganzer Anstand."
„Du stellst dich überrascht“, sagte die Prinzessin lächelnd, „und du hast es doch selbst hierher gebracht."
„Ich, gnädige Prinzessin?“, erwiderte Abrikotine, „ich schwöre euch, dass ich Zeit meines Lebens dieses Gemälde nicht gesehen habe und wie sollt' ich so kühn sein, euch irgendetwas zu verheimlichen, das von Interesse für euch ist? durch welches Wunder auch sollte es in meine Hände geraten sein? Ich kann weder malen, noch hat je ein Mann diesen Ort betreten und doch seid ihr hier zugleich mit ihm gemalt."
„Ich fange an mich zu fürchten“, sagte die Prinzessin; „irgend ein Geist muss es hierher gebracht haben."
„Wenn ich es wagen darf, euch einen Rat zu geben“, versetzte Abrikotine, „so verbrennt es auf der Stelle."
„Wie Schade!“, sagte die Prinzessin mit einem Seufzer; mich dünkt, mein Zimmer könnte nicht schöner geschmückt sein!“, und indem sie dieses sagte, betrachtete sie es mit unverwandten Blicken. Abrikotine aber bestand darauf, man müsse durchaus einen Gegenstand verbrennen, der nur durch Zauberei könne hierher gebracht worden sein.
Sie lief auf der Stelle fort, um Feuer zu holen, während die Prinzessin an ein Fenster trat, weil sie ein Bildnis, das so großen Eindruck auf ihr Herz machte, nicht länger ansehen wollte. Da aber Kobold keineswegs gesonnen war, es verbrennen zu lassen, benutzte er diesen Augenblick, um es zu nehmen und sich unbemerkt damit zu entfernen.
Er hatte kaum das Gemach verlassen, als die Prinzessin sich umwandte, um das schöne Gemälde, welches ihr so wohl gefiel, noch einmal zu betrachten. Welches Erstaunen, als sie es nicht mehr fand! Sie suchte es überall, natürlich aber vergebens. Sie fragte Abrikotine, die jetzt zurückkam, ob sie es mitgenommen habe. Abrikotine versicherte das Gegenteil und dieses letzte Abenteuer setzte sie vollends in Schrecken.
Sobald Kobold das Bildnis verborgen hatte, kehrte er wieder in das Zimmer zurück, denn er empfand das größte Vergnügen, die schöne Prinzessin so oft als möglich zu sehen und sprechen zu hören. Er speiste daher auch alle Tage an ihrer Tafel mit Blauhaar, der freilich nicht zum Besten dabei fortkam; Indes war Kobold weit davon entfernt, sich zufrieden zu fühlen, da er weder sprechen, noch sich sehen lassen durfte, und es ist wohl keine Kleinigkeit, sich unsichtbar Gegenliebe zu erwerben.
Die Prinzessin hatte Sinn für alles Schöne und in ihrer gegenwärtigen Stimmung bedurfte sie der Zerstreuung. Eines Tages äußerte sie im Kreise ihrer Damen, es würde ihr viel Vergnügen machen, zu wissen, wie die Damen an den verschiedenen Höfen der Welt gekleidet wären, um dann die geschmackvollste Mode für sich selbst auswählen zu können.
Mehr bedurfte es nicht, um Kobold zu veranlassen, die ganze Erde zu durchfliegen. Er setzte sein rotes Hütchen auf und wünschte sich nach China, kaufte dort die schönsten Stoffe und nahm das Muster einer Frauentracht mit; er flog nach Siam und tat dort das Nämliche, er durcheilte vier Weltteile in drei Tagen und immer wenn er eine gehörige Bürde aufgesammelt hatte, kehrte er in den Palast der stillen Freuden zurück, um sie in einer entlegenen Kammer zu verbergen. Als er nun auf diese Weise eine große Anzahl kostbarer Seltenheiten gesammelt (denn Geld hatte er, so viel er wollte, die Rose gab alles her), begab er sich nach Paris, kaufte daselbst fünf bis sechs Dutzend Puppen, ließ sie mit all den Stoffen bekleiden und stellte sie sämtlich dann in dem Gemach der Prinzessin auf.
Als diese hereintrat, empfand sie die angenehmste Überraschung, die sie nur je gehabt hatte. Jede der Puppen hielt ein Geschenk in der Hand, Uhren, Armbänder, Ringe von Diamanten; und die, welche am meisten in die Augen fiel, trug eine Kapsel. Die Prinzessin öffnete dieselbe und fand darin das Portrait Leanders, denn das Bild desselben hatte sich ihr von jenem ersten Gemälde so tief eingeprägt, dass sie ihn auf der Stelle wieder erkannte. Sie stieß einen lauten Schrei aus und sagte zu Abrikotinen: „Ich kann nicht begreifen, was seit einiger Zeit in meinem Palaste vorgeht. Meine Vögel reden so vernünftig, und es scheint, dass ich nur meine Wünsche zu äußern brauche, um sie erfüllt zu sehen; ich finde zweimal das Bildnis Dessen, der dich aus den Händen der Räuber errettet hat, und sieh da, welche Stoffe, Diamanten, Stickereien, Spitzen und kostbare Seltenheiten! Was für eine Fee ist es, was für ein Geist, der es sich so angelegen sein lässt, mir dergleichen Annehmlichkeiten zu erweisen?
Als Leander dies hörte, schrieb er in seine Schreibtafel folgende Worte und warf sie der Prinzessin zu Füßen:
„Ich bin nicht Geist und bin nicht Fee,
Doch fühl' ich tiefes Liebesweh,
Nicht wag' ich, vor euch zu erscheinen,
O wollt zum wenigsten mein Loos beweinen!"
Die Schreibtafel glänzte so von Gold und Edelsteinen, dass die Prinzessin sie sogleich gewahr wurde; sie öffnete sie und las mit dem größten Erstaunen die Verse Kobolds. „Dieser Unsichtbare“, sagte sie hierauf, „ist also ein Ungeheuer, weil er es nicht wagt, sich mir zu zeigen?"

„Ich habe sagen hören, gnädige Prinzessin“, erwiderte Abrikotine, „dass die Kobolde aus Luft und Feuer bestehen, dass sie keinen Körper haben und dass nur ihr Geist und ihr Wille tätig ist."
, „Ich bin zufrieden damit“, versetzte die Prinzessin, „ein solcher Liebhaber kann die Ruhe meines Lebens nicht besonders stören."
Leander war entzückt, die Prinzessin mit seinem Bilde so beschäftigt zu sehen und zu hören. Er erinnerte sich, dass in einer Grotte, welche sie öfters besuchte, ein Fußgestell stand, welches für eine noch unvollendete Diana bestimmt war. Auf dieses Piedestal nun stellte sich Leander, in einer ganz ungewöhnlichen Kleidung, mit einem Lorbeerkranz aus dem Kopf und einer Lyra in der Hand. Mit Ungeduld erwartete er den Augenblick, wo die Prinzessin, wie sie täglich es gewohnt war, hierher kommen würde.
Als sie die Grotte betrat, winkte sie, dass man ihr nicht folgen solle, da sie allein zu sein wünschte, worauf ihre Dienerinnen sich in den Alleen des Gartens zerstreuten.
Die Prinzessin warf sich auf eine Ruhebank und sprach vor sich hin, aber so leise, dass Kobold nichts davon verstehen konnte. Dieser hatte anfänglich das rote Hütchen aufgesetzt, damit sie ihn nicht sogleich gewahr werde, dann nahm er es ab.
Ihr Erstaunen war unbeschreiblich; anfangs glaubte sie, es sei eine Bildsäule, da er unbeweglich in der Stellung blieb, welche er angenommen hatte. Sie betrachtete ihn mit einem Gefühl von Furcht und Freude, aber das Vergnügen, welches diese so unerwartete Erscheinung ihr gewährte, siegte schon über die Furcht, als der Prinz plötzlich in Begleitung der Lyra einen sanften, lieblichen Gesang anhob.
So anmutig auch die Stimme Leanders war, so konnte die Prinzessin doch dem Schrecken, der sie ergriff, nicht widerstehen, sie erbleichte plötzlich und sank ohnmächtig zu Boden.
Leander sprang bestürzt von dem Fußgestell herab und nachdem er sein rotes Hütchen, um von niemanden gesehen zu werden, wieder aufgesetzt hatte, leistete er ihr mit dem größten Eifer jeden möglichen Beistand. Nach einiger Zeit schlug sie die Augen wieder auf und sah sich überall um, als ob sie ihn suche. Niemand war zu sehen, doch fühlte sie, dass man ihre Hände festhielt und küsste. Lange Zeit wagte sie kein Wort zu reden, zwischen Furcht und Hoffnung geteilt; obwohl sie den Kobold fürchtete, so lieb war er ihr doch, wenn er die Gestalt des Unbekannten annahm.
Endlich rief sie aus: „Kobold, artiger Kobold, warum bist du nicht Der, den ich wünsche?"
Bei diesen Worten war Leander nahe daran, sich zu entdecken, aber er wagte es noch immer nicht. „So lange ich sie noch erschrecke“, sagte er bei sich selbst, „so lange sie mich noch fürchtet, darf ich nicht auf ihre Liebe hoffen." Er schwieg daher und zog sich in einen Winkel der Grotte zurück.
Die Prinzessin, welche allein zu fein glaubte, rief Abrikotine herbei und erzählte ihr das Wunder von der lebendig gewordenen Statue, wie anmutig ihre Stimme gewesen sei und wie hilfreich sich der Kobold bei ihrer Ohnmacht erwiesen habe. „Wie Schade“, sagte sie, „dass dieser Kobold so hässlich und ungestaltet ist, denn unmöglich kann irgend Jemand liebenswürdigere und gefälligere Sitten haben!"
„Und wer hat euch denn gesagt, gnädige Prinzessin“, versetzte Abrikotine, „dass er so hässlich ist, wie ihr glaubt?"
„Ach“, sagte die Prinzessin, „wenn er dem Unbekannten gliche, so würde es mir schwer werden, den Vorschriften meiner Mutter zu gehorchen!"
Man kann sich leicht vorstellen, welches Vergnügen Leander bei dieser Unterhaltung empfand!
Inzwischen wartete der kleine Wüterich, welcher in die Prinzessin verliebt war, ohne sie je gesehen zu haben, mit Ungeduld ans die Rückkehr der vier Männer, die er nach der Insel der stillen Freuden abgesandt hatte. Indes nur einer kehrte zurück, der ihm jedoch über alles ausführlich berichtete. Er erzählte ihm, dass die Insel von Amazonen verteidigt würde und nur ein mächtiges Heer ihm den Eingang verschaffen könnte.
Der König, sein Vater, war so eben gestorben und Wüterich also unumschränkter Herr geworden. Sogleich sammelte er ein Heer von mehr als viermal hunderttausend Mann und zog an ihrer Spitze zur Eroberung der Insel aus. Das war einmal ein schöner General, der erste beste Affe hätte sich besser ausgenommen, als er!
Als die Amazonen dieses gewaltige Heer erblickten, benachrichtigten sie die Prinzessin davon, welche ohne Verzug die treue Abrikotine nach dem Feenreiche absandte und ihre Mutter um Rat fragen ließ, wie sie den kleinen Wüterich aus ihren Staaten vertreiben solle.
Abrikotine aber fand die Fee ganz in Zorn. „Ich weiß alles“, sagte sie, „was bei meiner Tochter vorgeht. Der Prinz Leander ist in ihrem Palast, er liebt sie und sie liebt ihn. Alle meine Sorgfalt hat sie nicht vor einem solchen Schicksal bewahren können. Geh', Abrikotine, ich will nichts mehr von dieser Tochter hören, deren Ungehorsam mir solchen Kummer macht."

Als Abrikotine diese schlimm« Nachricht der Prinzessin hinterbrachte, geriet diese in die größte Verzweiflung. Kobold befand sich unsichtbar in ihrer Nähe und nahm an ihrem Schmerz den innigsten Anteil. Doch wagte er nicht, sie in diesem Augenblick anzureden.
Er erinnerte sich, dass Wüterich sehr geldgierig sei und hoffte ihn dadurch vielleicht zum Rückzuge zu bewegen. Sogleich verkleidete sich Leander als Amazone und wünschte sich in den Wald zu seinem Pferde. Kaum hatte er Lichtblau gerufen, als dieser springend und wiehernd herbeikam, denn er hatte, so lange von seinem lieben Herrn entfernt, die größte Langeweile empfunden. Leander langte in dem Lager Wüterichs an und Jedermann hielt ihn für eine Amazone, so schön und jugendlich sah er aus. Man meldete dem König, dass eine junge Dame im Auftrage der Prinzessin der stillen Freuden-Insel ihn zu sprechen wünsche. Wüterich warf sogleich seinen königlichen Mantel um und setzte sich auf den Thron, auf welchem er sich ausnahm wie eine Meerkatze, die den König spielen will.
Leander trat ein und sagte ihm, die Prinzessin, welche ein stilles, friedliches Leben den Unruhen des Krieges vorziehe, lasse ihm so viel Geld anbieten, als er nur irgend wolle, im Fall er ihr Frieden gewähre; schlüge er jedoch dieses Anerbieten aus, so werde sie nichts zu ihrer Verteidigung unversucht lassen.
Wüterich erwiderte, er wolle Mitleid mit der Prinzessin haben und ihr die Ehre seines Schutzes bewilligen; sie brauche ihm nur hundert tausend Millionen Goldstücke zu schicken, so werde er augenblicklich in sein Reich zurückkehren.
Leander entgegnete ihm, da es zu viel Zeit kosten würde, hundert tausend Millionen Goldstücke zu zählen, so möge er doch lieber sagen, wie viel Zimmer voll er zu haben wünsche; die Prinzessin sei edelmütig und reich genug, um ein paar mehr nicht anzusehen.
Wüterich war außerordentlich erstaunt, dass man, anstatt zu handeln, die geforderte Summe freiwillig noch erhöhte. Es schien ihm das Beste, so viel zu nehmen, als er immer könnte, und dann die Amazone töten zu lassen, damit sie zu ihrer Gebieterin nicht wieder zurückkehren könne.
Hierauf sagte er zu Leandern, er verlange dreißig große Säle ganz mit Goldstücken gefüllt und gebe sein königliches Wort, sogleich dann umzukehren. Leander wurde in die Zimmer geführt, die er mit Gold anfüllen sollte, nahm seine Rose und schüttelte sie so lange, bis Pistolen, Quadruples, Louisdor, Goldtaler, Rosenobles, Souveraine, Guineen und Zechinen wie in einem Platzregen herabstürzten. Es gibt wohl nichts Reizenderes auf der Welt, als so ein Regen.
Wüterich geriet außer sich vor Entzücken und je mehr Gold er sah, desto größere Luft empfand er, die Amazone umzubringen und die Prinzessin in seine Gewalt zu bekommen.
Sobald die dreißig Zimmer voll waren, rief er den Wachen zu: „Ergreift diese Spitzbübin, sie hat mir falsches Gold gebracht."
Sogleich stürzten sich alle auf die Amazone, in demselben Augenblick aber setzte Kobold sein rotes Hütchen auf und war verschwunden. Man glaubte, er sei entwischt, lief ihm nach und ließ Wüterich allein. In diesem Augenblick ergriff ihn Kobold bei den Haaren und schnitt ihm den Kopf ab, wie einem Huhn.
Als Kobold den Kopf hatte, wünschte er sich in den Palast der Freuden zurück. Die Prinzessin ging im Garten auf und nieder, sehr betrübt über die Antwort ihrer Mutter und auf ein Mittel sinnend, wie sie Wüterich zurücktreiben könne. Letzteres schien ihr allerdings sehr schwer, da sie den viermal hunderttausend Mann des Tyrannen nur eine kleine Anzahl von Amazonen entgegenzustellen hatte. Plötzlich sah sie einen Kopf in der Luft schweben, ohne dass ihn irgendjemand hielt. Dieses Wunder setzte sie in solches Erstaunen, dass sie nicht wusste, was sie davon denken sollte, und ihr Erstaunen wuchs noch viel mehr, als man den Kopf zu ihren Füßen niederlegte, ohne dass sie die Hand erblickte, welche dies tat. Zugleich vernahm sie eine Stimme, welche zu ihr sagte:

„Seid ohne Furcht, anmutige Prinzessin, Wüterich wird euch nichts mehr zu Leide tun."
Abrikotine erkannte sogleich die Stimme Leanders und rief aus: „Fürwahr, gnädige Prinzessin, der Unsichtbare, der hier spricht, ist der Fremde, der mich befreit hat."
Die Prinzessin schien erstaunt und entzückt. „Ach!“, sagte sie, „wenn es wahr ist, dass der Kobold und der Fremde eins und dasselbe sind, so würde es mir großes Vergnügen gewähren, ihm meine Dankbarkeit zu bezeigen."
Kobold erwiderte: „Ich will mich bemühen, sie noch mehr zu verdienen."
In der Tat kehrte er sogleich zu der Armee Wüterichs zurück, wo das Gerücht seines Todes sich schon verbreitet hatte. Kaum zeigte sich Leander, so kamen alle auf ihn zu, die Hauptleute und Soldaten umringten ihn mit lautem Freudengeschrei und erkannten ihn als ihren König an, dem die Krone rechtmäßiger Weise zugehöre.
Er überließ ihnen sogleich mit großer Freigebigkeit die dreißig Säle voll Gold, um sie unter sich zu verteilen, so dass selbst die gemeinen Soldaten für ihr Lebelang reiche Leute wurden. Leander schickte sie hierauf in kleinen Märschen wieder in ihre Heimat und kehrte dann zur Prinzessin zurück. Die Prinzessin aber schlief schon und so begab er sich auf das Zimmer, wo er gewöhnlich die Nacht zubrachte. Da er heute ziemlich müde und der Ruhe bedürftig war, so vergaß er die Tür, wie sonst, sorgfältig zu verschließen.
Die Prinzessin Indes konnte vor Unruhe nicht schlafen. Sie stand mit dem frühesten Morgen auf und begab sich hinab in ihr Zimmer; welche Überraschung aber, als sie dort Leander auf dem Bett schlafend fand! Sie hatte Zeit genug, ihn unbemerkt zu betrachten und sich zu überzeugen, dass es der nämliche Jüngling sei, dessen Bildnis sie in der Kapsel von Diamanten besaß.
„Ist es möglich“, sagte sie bei sich selbst, „dass dies ein Kobold ist? schlafen denn die Kobolde auch? Ist dies ein Körper von Luft und Feuer, wie Abrikotine sagt?"
Sie berührte leise seine Haare, lauschte aufmerksam auf seine Atemzüge und fühlte bald die größte Freude, ihn gefunden zu haben, bald wieder die tiefste Unruhe.

Während sie nun so, in seinen Anblick versenkt, da stand, trat plötzlich ihre Mutter herein mit einem so schrecklichen Getöse, dass Leander aus dem Schlaf auffuhr. Wie groß aber war seine Überraschung und sein Schmerz, als er die Prinzessin in der größten Verzweiflung erblickte, wie sie von ihrer Mutter unter den härtesten Vorwürfen fortgerissen wurde. O, welch' ein Schmerz für Leander und die Prinzessin, welche jetzt nahe daran waren, für immer getrennt zu werden! Die Prinzessin wagte keine Widerrede gegen die schreckliche Fee; sie warf nur ihre Augen auf Leander, als ob sie ihn um Beistand anflehe.
Leander sah wohl ein, dass er sie wider den Willen einer so mächtigen Fee nicht zurückhalten könne, versuchte jedoch, ob er durch Beredsamkeit und Unterwürfigkeit die erzürnte Mutter besänftigen könne. Er eilte ihr nach, warf sich zu ihren Füßen und beschwor sie, Mitleid mit ihm zu haben, der sein ganzes Glück darin finden würde, ihre Tochter glücklich zu machen.
Auch die Prinzessin, durch sein Beispiel ermutigt, umarmte die Knie ihrer Mutter und beteuerte, dass sie ohne Leander nicht leben könne und die größten Verpflichtungen gegen ihn habe.
Die unerbittliche Fee ließ sie Indes unerhört zu ihren Füßen liegen; vergebens flehten sie in den rührendsten Ausdrücken, die Fee schien ohne alles Gefühl zu sein und gewiss würde sie ihnen nicht verziehen haben, wenn nicht in diesem Augenblick die anmutige Fee Wunderhold glänzender als die Sonne in dem Zimmer erschienen wäre.
Sie umarmte die ältere Fee und sprach zu ihr: „Meine teure Schwester, ich bin überzeugt, ihr habt die Dienste nicht vergessen, die ich euch damals erwies, als ihr in unser Reich zurückkehren wolltet; ohne mich wäret ihr nie wieder aufgenommen worden. Ich habe nie von euch einen Gegendienst gefordert; endlich aber ist der Augenblick gekommen, mir eure Dankbarkeit zu bezeigen. Verzeihet dieser schönen Prinzessin, williget in ihre Vermählung mit diesem jungen Könige und ich bürge euch dafür, dass seine Neigung unverändert bleiben wird. Ihre Tage werden ein Gewebe von Gold und Seide sein. Diese Verbindung wird euch mit der Vergangenheit versöhnen, ich aber werde euch die Freude, welche ihr mir dadurch bereitet, nie vergessen."
„Ich willige in alles, was ihr nur wünscht, meine teure Wunderhold“, rief die Fee, „kommt, meine Kinder, kommt in meine Arme und empfanget die Versicherung meines steten Wohlwollens."
Bei diesen Worten umarmte sie die Prinzessin und Leander, worauf die Fee Wunderhold und ihr ganzes Gefolge, welches indessen genaht war, einen anmutigen Freudengesang anstimmten. Der ganze Hofstaat der Prinzessin wurde dadurch aus seinem Morgenschlummer erweckt und eilte herbei, um die Veranlassung zu erfahren.
Welche angenehme Überraschung für Abrikotine! Sie hatte kaum die Augen auf Leander geworfen, als sie ihn wieder erkannte und da sie die Hand der Prinzessin in der seinigen sah, sogleich erriete, was vorgefallen war. Sie wurde in ihren Vermutungen noch mehr bestätigt, als die Fee, die Mutter der Prinzessin, sagte, sie wolle die Insel der stillen Freuden, den Palast und all' die Wunder, welche er enthielt, nach dem Königreiche Leanders versetzen, dort für immer bei ihnen leben und sie mit noch viel größeren Glücksgütern überhäufen.
Da Wunderhold an alles dachte, so hatte sie durch ihre Zaubermacht die Generale und Hauptleute der Wütrichschen Armee in den Palast der Prinzessin versetzt, damit sie Zeugen wären von dem prachtvollen Fest, welches sie zur Hochzeitfeier veranstalten wollte. Sie ließ es sich in der Tat sehr angelegen sein und eine Menge Bände würden nicht hinreichen, die Schauspiele, Opern, Konzerte, Ringelrennen, Turniere, Wettkämpfe, Jagden und andere Festlichkeiten zu beschreiben, welche bei dieser großartigen Hochzeitfeier stattfanden. Wir übergehen dieselben also und melden nur noch, dass Leander und seine Gemahlin bis an ihr Ende ein zufriedenes Leben führten, dessen Glück durch nichts gestört wurde.

Märchen der Welt, nach einer Übersetzung von Dr. Kletke, 1846, mit angepasster Schreibweise.

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