Märchen Autoren: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Märchen Titel: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Märchen Themen: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Die gute kleine Maus - Französische Märchen
Die gute kleine Maus
Es war einmal ein König und eine Königin, die liebten sich so sehr,
dass sie gegenseitig das Glück ihres Lebens machten. Ihre Gedanken und
Wünsche waren immer im Einverständnis.
Alle Tage gingen sie zusammen auf die Jagd, um Hasen und Hirsche zu
schießen, oder sie gingen auf den Fischfang, Schollen und Karpfen zu
fangen, oder auf den Ball, zu einem Gastmahl, in die Komödie und in
die Oper. Sie lachten, sie sangen, kurzum, sie taten alles Mögliche,
um ihr Leben angenehm hinzubringen. Die Untertanen folgten dem
Beispiel des Königs und der Königin und belustigten sich mit einander
um die Wette. Aus allen diesen Gründen nannte man dies Königreich das
Land der Freude.
Nun traf es sich, dass ein benachbarter König des Freudenlandes ein
ganz entgegengesetztes Leben führte. Er war ein erklärter Feind von
Vergnügungen. Beulen und Wunden, das war seine Freude. Er hatte ein
verdrießliches Aussehen, einen großen Bart, eingefallene Augen, war
bleich und mager, kleidete sich immer in Schwarz und hatte borstiges
Haar, welches ganz verworren umher hing. Wanderer, welche durch sein
Land zogen, ließ er anfallen und ermorden. Er knüpfte mit eigener Hand
die Verbrecher auf und es machte ihm den größten Spaß, sie so viel als
möglich zu quälen. Wenn er von einer Mutter hörte, die ihr kleines
Töchterchen oder ihren kleinen Sohn zärtlich liebte, ließ er sie vor
sich bringen, brach ihrem Kinde vor ihren Augen Arme und Beine oder
drehte ihm den Hals um. Man nannte dies Königreich das Land der
Tränen.
Als dieser boshafte König von dem Glück seines Nachbars hörte, wusste
er sich vor Neid kaum zu lassen und beschloss, eine große Armee zu
sammeln und den guten König so lange zu bekriegen, bis er ihn ums
Leben oder wenigstens ins Elend gebracht habe. Er schickte daher
allenthalben aus, um Truppen anzuwerben und ließ eine Menge Waffen
anfertigen. Jedermann zitterte. Man fragte sich; „Über wen wird dieser
boshafte König herfallen? da wird von keiner Barmherzigkeit mehr die
Rede sein."
Als nun alles in Bereitschaft war, zog er gegen das Land seines
Nachbars. Dieser rüstete sich schleunigst zur Gegenwehr, aber die
Königin starb beinahe vor Furcht und sagte zu ihm: „Lass uns lieber
die Flucht ergreifen, so viel Geld als möglich mit uns nehmen und so
weit gehen, als die Erde uns trägt."
„Pfui!“, antwortete der König. „Ich müsste kein Herz haben, wenn ich
dies täte. Es ist besser, zu sterben, als sich feig zu betragen."
Er zog hierauf alle seine Truppen zusammen, sagte der Königin ein
zärtlich Lebewohl, bestieg sein gutes Ross und ritt fort.
Als sie ihn aus dem Gesicht verloren hatte, fing sie bitterlich zu
weinen an, rang die Hände und jammerte: „Ach! wenn der König im Felde
getötet wird, so wird man mich gefangen nehmen und der boshafte König
wird mir alles ersinnliche Leid antun."
Dieser Gedanke machte ihr solche Unruhe, dass sie weder essen noch
schlafen konnte.
Der König schrieb ihr alle Tage, eines Morgens aber, da sie über die
Mauer hinausblickte, sah sie einen Kurier aus Leibeskräften
herangesprengt kommen. Sie rief ihn an: „Kurier, was für Nachrichten
bringst du?"
„Der König ist tot“, schrie er, „die Schlacht ist verloren und der
böse König wird im Augenblick hier sein."
Die arme Königin fiel bei diesen Worten ohnmächtig nieder, man trug
sie auf ihr Bett, alle ihre Hofdamen standen um sie her und weinten,
die eine um ihren Vater, die andere um ihren Sohn, sie rangen die
Hände, zerrauften sich das Haar, es war der erbarmungswürdigste
Anblick von der Welt.
Plötzlich hört man ein lautes Getöse auf dem Hofe. Es war der boshafte
König mit allen seinen elenden Untertanen, die ohne Barmherzigkeit
umbrachten, was ihnen in den Weg kam. Er trat ganz bewaffnet in den
königlichen Palast und begab sich in das Zimmer der Königin. Als sie
ihn hereintreten sah, empfand sie so große Furcht, dass sie sich tief
in ihr Bett verbarg und die Bettdecke über den Kopf zog. Er rief sie
zwei-, dreimal, aber sie antwortete nicht. Darüber wurde er so zornig,
dass er sagte: „Ich glaube, du willst deinen Spaß mit mir treiben,
weißt du wohl, dass ich dich auf der Stelle erwürgen kann?" Er zog die
Decke weg, und riss ihr die Haube vom Kopfe, dass ihr schönes langes
Haar auf die Schultern herab fiel, wickelte es dreimal um die Hand,
lud sie auf den Rücken, wie einen Sack Getreide, schleppte sie so die
Treppe hinunter und bestieg sein Pferd, welches über und über schwarz
war.
Sie bat ihn, doch Mitleid mit ihr zu haben; er verhöhnte sie aber nur
und sagte: „Schrei' und winsle, so viel du Luft hast, ich lache
darüber und es macht mir Spaß."
So brachte er sie in sein Königreich und schwur den ganzen Weg über,
dass er fest entschlossen sei, sie aufhängen zu lassen. Da man ihm
aber sagte, dass die Königin ihre Niederkunft erwarte, ward er andern
Sinnes und beschloss, wenn sie eine Tochter zur Welt brächte, diese
mit seinem Sohne zu verheiraten.
Um darüber Gewissheit zu erlangen, ließ er eine Fee zu sich einladen,
die in der Nähe seines Königreichs wohnte. Als sie kam, bewirtete er
sie besser, als es sonst seine Gewohnheit war und führte sie darauf in
einen Turm, in welchem ganz hoch oben die arme Königin eine kleine,
sehr ärmlich eingerichtete Kammer hatte. Sie lag auf der Erde, auf
einer elenden Matratze, die sie Tag und Nacht mit ihren Tränen
benetzte. Die Fee wurde von diesem Anblick gerührt, sie begrüßte sie
und flüsterte, indem sie sie umarmte, ihr ganz leise zu: „Fasst Mut!
edle Frau, eure Leiden werden ein Ende nehmen und ich hoffe, das
Meinige dazu beizutragen."
Die Königin wurde durch diese Worte ein wenig getröstet und bat sie,
mit einer armen Prinzessin Mitleid zu haben, die ehemals ein so großes
Glück genossen und sich jetzt in einem so traurigen Zustande befinde.
Als sie so mit einander sprachen, rief ihnen der boshafte König zu:
„Heda, nicht so viel Komplimente! ich habe euch hierher geführt, um
mir zu sagen, ob dieses Weib einen Knaben oder ein Mädchen zur Welt
bringen wird."
„Ein Mädchen“, antwortete die Fee, „und zwar wird es die schönste und
artigste Prinzessin werden, welche man je gesehen hat"; und darauf
wünschte sie ihr alle Güter und Ehrenbezeugungen von der Welt.
„Wenn sie aber nicht so schön und artig ist“, sagte der boshafte
König, „so hänge ich sie mit samt ihrer Mutter an einen Baum auf und
nichts auf der Welt soll mich davon abhalten."
Nach diesen Worten ging er mit der Fee hinweg, ohne die gute Königin
nur anzusehen. Sie weinte bitterlich. „Ach“, sagte sie, als sie wieder
allein war, was soll ich anfangen! Wenn ich ein liebenswürdiges
Töchterchen zur Welt bringe, so wird er es seinem Ungeheuer von Sohn
geben und wenn es hässlich ist, so wird er uns alle Beide aufhängen.
Welches unsägliche Elend ist über mich gekommen!"
Die Zeit ihrer Niederkunft kam immer näher und die Unruhe der Königin
wurde immer heftiger; sie hatte Niemanden, dem sie ihr Leid klagen und
der sie trösten konnte, sie sah keinen Menschen als den Kerkermeister,
der sie bewachte und ihr für den ganzen Tag nur drei gekochte Erbsen
und ein kleines Stück Schwarzbrot brachte. Sie wurde magerer als ein
Hering und hatte fast nur noch Haut und Knochen.
Eines Abends, als sie so saß und spann (denn der boshafte König,
welcher zugleich sehr geizig war, ließ sie Tag und Nacht arbeiten),
sah sie aus einem Loch in der Mauer ein kleines niedliches Mäuschen
hervorschlüpfen.
„Ach“, sagte sie zu ihm, „mein liebes Tierchen, was suchst du hier? —
ich habe selbst nur drei Erbsen für den ganzen Tag, wenn du nicht
fasten willst, so mach' dich fort."
Indes das Mäuschen lief hin und her, tänzelte und sprang, wie ein
kleiner Affe; so dass die Königin, die mit großem Vergnügen zusah, ihm
endlich die einzige Erbse gab, die sie zum Abendessen übrig hatte.
„Da, mein artiges Tierchen“, sagte sie, „iss; ich habe nicht mehr,
aber ich gebe es dir gern."
Kaum hatte sie dies gesagt, so erblickte sie auf ihrem Tisch ein
vortreffliches Rebhuhn, welches auf das Schönste gebraten war, und
daneben zwei Teller mit Zuckerwerk.
„Wahrhaftig“, sprach sie, „eine gute Handlung bleibt niemals
unbelohnt." Sie aß ein wenig, aber das lange Fasten hatte ihr den
Appetit benommen; sie warf der Maus ein Bonbon hin, die es beknabberte
und dann noch lustigere Sprünge machte, als vorher.
Am andern Morgen brachte der Kerkermeister der Königin zur gehörigen
Stunde die drei Erbsen, welche er, um die Unglückliche zu verspotten,
in eine große Schüssel gelegt hatte. Das kleine Mäuschen schlich sacht
herbei und fraß sie alle drei mit samt dem Brot. Als die Königin zu
Mittag speisen wollte, fand sie nichts mehr.
Da wurde sie recht böse auf das Mäuschen; als sie aber die große leere
Schussel zudecken wollte, fand sie die köstlichsten Gerichte darin,
von denen sie nach Herzenslust zulangte. Während sie aber aß, fiel ihr
ein, dass der boshafte König sie vielleicht in zwei, drei Tagen nebst
ihrem Kinde umbringen lassen werde. Sie stand weinend vom Tisch aus
und rief, indem sie die Augen zum Himmel erhob: „Ach, gibt es denn
kein Mittel, uns zu retten?"
Indem sie dies sagte, sah sie, dass das Mäuschen mit einigen langen
Strohhalmen spielte. „Wenn ich genug Stroh hätte“, fuhr die Königin
fort, „so könnt' ich mir eine Decke flechten, um mein Kind
hineinzufetzen; ich würde es zum Fenster hinaus irgendeiner
mitleidigen Seele, welche Sorge dafür tragen wollte, hinunterlassen."
Sie gewann neuen Mut und fing gleich an zu arbeiten. An Stroh fehlte
es ihr nicht, denn das Mäuschen schleppte immer mehr herbei und
erhielt dafür von der Königin zur Essenszeit ihre drei Erbsen, an
deren Stelle sie jedes Mal die ausgewähltesten Gerichte fand. Sie war
sehr erstaunt darüber und hatte gar keine Ahnung, wer ihr so köstliche
Speisen zusende.
Eines Tages sah die Königin zum Fenster hinaus, um zu sehen, wie lang
sie wohl das Seil machen müsse, an welches sie den Korb befestigen
wollte, um ihn hinunter zu lassen. Da erblickte sie unten eine kleine
alte Frau, die sich auf eine Krücke stützte und zu ihr sagte: „Ich
weiß euern Kummer, gnädige Frau, wenn ihr wollt, so will ich euch
beistehen."
„Ach! meine teure Freundin!" versetzte die Königin, „ihr werdet mir
einen sehr großen Gefallen erweisen können; kommt alle Abend an den
Fuß dieses Turmes, ich will euch dann mein armes Kind hinunterlassen,
sorgt für dasselbe und ich werde euch, wenn ich je wieder in bessere
Verhältnisse gelange, reichlich dafür belohnen."
„Ich bin nicht eigennützig“, erwiderte die Alte, „aber ich lieb' eine
gute Mahlzeit und nichts auf der Welt lieb' ich mehr, als eine runde,
fette Maus. Wenn ihr etwa in eurem Kerker eine finden solltet, so
tötet sie und werft sie mir herab; ich werde nicht undankbar dafür
sein, euer Töchterchen soll es gut bei mir haben."
Als die Königin diesen Vorschlag vernahm, brach sie in Tränen ans,
ohne ein Wort zu entgegnen. Nach einer kleinen Weile fragte die Alte,
warum sie denn weine.
„Ach“, versetzte sie, „in meine Kammer kommt nur ein einziges Mäuschen
und das ist so freundlich, so allerliebst, dass ich es nicht über mein
Herz bringen kann, es zu töten!"
„Wie“, rief die alte Frau voll Zorn, „also habt ihr eine spitzbübische
Maus, die alles benagt, lieber als euer Kind? Ich sehe wohl, ihr
verdient kein Mitleid, bleibt immer in so guter Gesellschaft; ich
werde schon ohne euch Mäuse
bekommen. Das macht mir wenig Sorge." Damit ging sie brummend und
murrend hinweg.
Der guten Mahlzeit ungeachtet, und wie niedlich das Mäuschen vor ihr
hin- und hertanzte, schlug die Königin die Augen kaum auf und weinte
in einem fort. Noch in derselben Nacht gebar sie eine Prinzessin, die
ein Wunder von Schönheit war. Anstatt zu weinen, wie andere Kinder,
lächelte sie ihre Mutter an und streckte die kleinen Händchen nach ihr
aus, als ob sie schon ganz verständig wäre. Die Königin liebkoste und
küsste sie mit schwerem Herzen.
„Du armes, teures Kind“, rief sie aus, „wenn du in die Hände dieses
boshaften Königs gerätst, so ist es um dich geschehen!"
Dann legte sie es in den Korb mit einem Zettel, der an dem Wickelzeug
befestigt war und auf welchem geschrieben stand:
„Dieses unglückliche kleine Mädchen heißt Joliette!"
Alle Augenblicke machte sie den Korb wieder auf und fand das Kind
immer noch schöner; dann küsste sie es, weinte immer heftiger und
wusste nicht, was sie tun sollte. Aber, siehe da, das kleine Mäuschen
kam herbei und schlüpfte zu Jolietten in den Korb.
„Ach, du kleines Tier“, sagte die Königin, „wie teuer kommt mich dein
Leben zu stehen, vielleicht verliere ich um deinetwillen meine
geliebte Joliette. Eine andere als ich hätte dich getötet und der
leckerhaften Alten gegeben — aber ich konnte es nicht über mein Herz
bringen."
Da fing die Maus plötzlich zu sprechen an und sagte: „Lasst euch das
nicht gereuen, edle Frau, ich bin eurer Freundschaft nicht so
unwürdig, als ihr glaubt."
Die Königin starb fast vor Furcht, da sie die Maus reden hörte; aber
ihre Furcht vermehrte sich noch, als sie bemerkte, dass ihr kleines
Schnäuzchen die Gestalt eines Gesichtes annahm, ihre Pfötchen zu
Händen und Füßen wurden und sie plötzlich in die Höhe wuchs. Endlich
erkannte die Königin, welche kaum noch hinzusehen wagte, in ihr die
Fee, welche mit dem boshaften König zu ihr gekommen war und sich so
liebreich bewiesen hatte.
„Ich wollte euer Herz nur auf die Probe stellen“, sagte die Fee zu
ihr, „ich sehe, dass es gut ist und dass ihr der Freundschaft fähig
seid. Wir Feen besitzen Schätze und Reichtümer im Überfluss; wir
bedürfen zum Genuss des Lebens nur der Freundschaft und diese finden
wir so selten."
„Ist es möglich, schöne Dame“, versetzte die Königin, sie umarmend,
„dass es bei eurem Reichtum und eurer Macht euch so schwer fallen
sollte, Freundinnen zu finden?"
„Gewiss“, entgegnete jene, „denn man liebt uns nur aus Eigennutz und
was ist eine solche Liebe! Ihr aber habt mich in der Gestalt eines
kleinen Mäuschens geliebt, ohne dass ihr irgendeinen eigennützigen
Beweggrund haben konntet. Ich wollte euch noch auf eine stärkere Probe
stellen und nahm die Gestalt einer alten Frau an — ich war es, die am
Fuß des Turmes mit euch sprach: aber ihr seid mir durchaus treu
geblieben."
Bei diesen Worten umarmte sie die Königin, küsste darauf dreimal die
kleine Prinzessin und sagte zu ihr: „Ich verleihe dir, mein Kind, der
Trost deiner Mutter zu sein und reicher und glücklicher zu werden, als
dein Vater. Du wirst hundert Jahre leben in vollkommener Schönheit,
ohne zu altern und ohne je krank zu sein."
Sehr erfreut dankte die Königin und bat die Fee, Jolietten
fortzubringen und für sie Sorge zu tragen; sie möge sie als ihr Kind
betrachten.
„Von Herzen gern“, erwiderte die Fee, legte die Kleine in den Korb und
ließ ihn hinab. Aber, da sie einen Augenblick verweilt hatte, um die
Gestalt des Mäuschens wieder anzunehmen, und nach ihr an dem Seile
hinab glitt, fand sie das Kind nicht mehr.
Ganz erschrocken stieg sie wieder hinauf und sagte zu der Königin:
,,Alles ist verloren! Meine Feindin Cancaline hat die Prinzessin
entführt! Diese grausame Fee nämlich ist meine ärgste Feindin und da
sie unglücklicherweise älter ist, als ich, so reicht ihre Macht weiter
als die meinige — ich weiß kein Mittel, Jolietten ihren nichtswürdigen
Klauen zu entreißen."
Als die Königin diese traurige Nachricht vernahm, meinte sie, vor
Schmerz sterben zu müssen — unter den heißesten Tränen beschwor sie
ihre Freundin, alles aufzubieten, die Kleine wieder zu erlangen.
Inzwischen benachrichtigte der Kerkermeister den König von der
Niederkunft der Königin. Sogleich kam der König und verlangte das
Kind. Sie sagte ihm jedoch, eine Fee, deren Namen sie nicht wisse,
habe es ihr mit Gewalt fortgenommen. In welche Wut geriet da der
boshafte König! er biss sich die Nägel ab und stampfte mit den Füßen.
„Ich habe dir versprochen“, rief er, „dich aufzuhängen: ich will auch
auf der Stelle mein Wort halten!"
Sogleich schleppte er die arme Königin in einen Wald, stieg auf einen
Baum und schickte sich an, die Königin aufzuknüpfen; aber die Fee,
welche unsichtbar zugegen war, gab ihm einen solchen Stoß, dass er von
oben herunterfiel und sich vier Zähne einschlug. Während seine Leute
um ihn beschäftigt waren, entführte die Fee die Königin in ihrem
fliegenden Wagen und brachte sie auf ein schönes Schloss. Sie trug die
größte Sorgfalt für sie und wenn die Königin jetzt noch die Prinzessin
Joliette gehabt hätte, so hätte zu ihrer Zufriedenheit nichts weiter
gefehlt. Allein man konnte nicht entdecken, wohin Cancaline sie
gebracht hatte, wiewohl das kleine Mäuschen sein Möglichstes tat.
Endlich, im Verlauf der Zeit ließ auch die heftige Betrübnis der
Königin nach. Schon fünfzehn Jahre waren verflossen, da hörte man,
dass sich der Sohn des boshaften Königs mit einem Gänsemädchen
vermählen wolle und dieses kleine Geschöpf wolle ihn nicht. Das war
freilich recht erstaunlich, dass ein Gänsemädchen Königin zu werden
ausschlug — wiewohl die Brautkleider fertig da lagen und so festliche
Anstalten zur Hochzeit getroffen waren, dass man hundert Stunden aus
der Umgegend dazu herbeikam.
Das kleine Mäuschen begab sich in das Land des boshaften Königs, sie
wollte das Gänsemädchen ganz unbemerkt beobachten. Sie kroch in den
Hühnerstall und fand sie da, in groben Zwillich gekleidet, barfüßig
und einen schmutzigen Lappen um den Kopf. Rund umher lagen Kleider,
mit Gold und Silber gestickt, Diamanten, Perlen, Bänder, Spitzen,
welche die Hühner und Gänse auf der Erde umherschleppten und
beschmutzten.
Das Gänsemädchen saß auf einem großen Steine und der Sohn des
boshaften Königs, welcher verwachsen, einäugig und lahm war, sagte in
drohendem Tone zu ihr: „Liebe mich oder ich bringe dich um."
Sie entgegnete ihm aber ruhig: „Nein, ich heirate euch nicht, ihr seid
gar zu hässlich, Ihr gleicht eurem grausamen Vater, lasst mich in Ruhe
mit meinen jungen Gänschen, ich liebe sie mehr, als alle eure
Schmucksachen."
Das Mäuschen betrachtete sie mit Bewunderung, denn sie war schön wie
der Tag. — Als sich der Sohn des boshaften Königs entfernt hatte, nahm
die Fee die Gestalt einer alten Schäferin an und sagte zu ihr: „Guten
Tag, mein Püppchen, sieh da, deine Gänschen gedeihen ja recht."
Das junge Mädchen sah die Alte mit freundlichen Blicken an und
versetzte: «Ich soll sie um einer elenden Krone willen verlassen, was
meint ihr dazu?"
„Mein Töchterchen“, antwortete die Fee, „eine Krone ist eine schöne
Sache, aber du kennst weder den Werth, noch die Last derselben!"
„O ich kenne sie wohl“, fiel rasch das Gänsemädchen ein, „und deshalb
bin ich entschlossen, sie nicht auf mich zu nehmen; wenn ich auch
nicht weiß, wer ich bin, noch wer mein Vater und meine Mutter ist,
denn ich habe weder Eltern, noch Freunde!"
„Du bist schön und tugendhaft, mein Kind“, erwiderte die verständige
Fee, „und das ist mehr wert, als zehn Königreiche. Erzähle mir doch,
ich bitte dich, wer dich hierher gebracht hat, da du weder Eltern noch
Freunde hast."
„Eine Fee, namens Cancaline, ist Schuld, dass ich hierher gekommen bin
— sie misshandelte mich ohne allen Grund. Eines Tages lief ich davon,
und da ich nicht wusste, wohin ich mich wenden sollte, so blieb ich in
einem Walde. Da traf mich der Sohn des boshaften Königs und fragte
mich, ob ich auf seinem Hofe einen Dienst nehmen wolle — ich sagte ja
und wurde Gänsemädchen. Alle Augenblicke kam er, nach den Gänsen zu
sehen, lind dabei sah er auch mich. Ach, ganz ohne meine Schuld hat er
sich in mich verliebt, und diese Liebe wird mir sehr lästig."
Bei dieser Erzählung ward es der Fee sehr wahrscheinlich, dass das
Gänsemädchen Niemand anders sein könne, als die Prinzessin Joliette.
„Meine Tochter“, sagte sie zu ihr, „wie ist dein Name?"
„Ich heiße Joliette, euch zu dienen“, versetzte jene.
Als die Fee dies hörte, zweifelte sie nicht länger an der Wahrheit
ihrer Vermutung, umarmte sie und liebkoste sie aufs Zärtlichste.
Sodann sagte sie zu ihr: „Meine liebe Joliette, ich kenne dich schon
seit langer Zeit und freue mich recht sehr, dass du so klug und artig
geworden bist — aber ich wünschte wohl, du wärest besser angezogen,
denn du siehst aus, wie ein kleiner Schmutzbartel; nimm die schönen
Kleider da und zieh' sie dir an."
Joliette gehorchte; sie nahm den schmutzigen Lappen ab, welchen sie um
den Kopf trug, und sogleich fielen ihre blonden Locken, die wie Gold
glänzten, über den Rücken herab bis auf die Erde. Sodann schöpfte sie
mit ihren zarten Händen aus einer Quelle, die in der Nähe des Hofes
floss, Wasser und wusch sich das Gesicht, welches so glänzend ward,
wie eine orientalische Perle. Mund und Wangen blühten wie Rosen, ihr
Wuchs war schlank wie eine Binse, ihre Haut so weiß wie Schnee und so
weich wie Seide. Als sie die schönen Kleider und die Diamanten
angelegt hatte, betrachtete die Fee sie mit größter Bewunderung und
sagte zu ihr: „Nun, meine geliebte Joliette, wer glaubst du wohl, dass
du bist?"
„Wahrhaftig“, antwortete sie, „ich komme mir vor, wie die Tochter
irgendeines großen Königs!"
„Würdest du dich darüber freuen?“, fragte die Fee.
„O gewiss, meine gute Mutter“, antwortete Joilette, „ich würde sehr
zufrieden damit sein."
„Nun wohlan“, rief die Fee, „so fei zufrieden — morgen wirst du mehr
von mir hören."
Sie kehrte eilig nach ihrem schönen Schlosse zurück, wo sie die
Königin beschäftigt fand, Seide zu spinnen. „Wollt ihr wetten, Frau
Königin“, rief ihr das Mäuschen entgegen, „um eure Spindel und euren
Rocken, dass ich euch die schönsten Nachrichten bringe, die ihr je
gehört habt?"
„Ach“, versetzte die Königin, „seit dem Tode meines Gemahls und dem
Verluste meiner Joliette gebe ich für alle Neuigkeiten nicht eine
Stecknadel."
„Nur still und betrübt euch nicht länger“, rief die Fee, „die
Prinzessin befindet sich vortrefflich, ich habe sie eben erst gesehen;
sie ist so schön, so schön, dass es nur auf sie ankommt, eine Königin
zu werden."
Sie erzählte ihr darauf die ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende
und die Königin weinte vor Freude, dass ihre Tochter so schön war und
vor Betrübnis, dass sie eine Gänsemagd sei. „Da wir unser Königreich
noch besaßen“, sagte sie, „und alles vollauf hatten, mein armer Gemahl
und ich, hätten wir wahrlich nicht geglaubt, dass unser Kind eine
Gänsemagd werden könne!"
„Daran ist die grausame Cancaline Schuld“, versetzte die Fee — „sie
hat es mir zum Verdruss getan, weil sie weiß, wie sehr ich euch liebe;
aber verlasst euch darauf, Joliette soll nicht länger in diesem Stande
bleiben oder ich will all meine Bücher verbrennen“,
„Nur dass sie nicht etwa den Sohn des boshaften Königs heiratet“, fiel
die Königin ein — „ lasst uns doch gleich morgen hinreisen und sie
hierher holen."
Nun geschah es, dass der Sohn des boshaften Königs, aus Ärger über
Joliettens abschlägige Antwort, sich unter einen Baum setzte und
dermaßen weinte und weinte, dass es ein wahres Geheul war. Sein Vater
hörte es, kam ans Fenster und schrie ihm zu: „Was hast du denn da zu
weinen, warum gebärdest du dich denn so einfältig?"
„Ja, unsere Gänsemagd will mich nicht lieben“, gab er zur Antwort.
„Wie“, rief der boshafte König, „sie will dich nicht lieben — ich
befehle es, sie soll dich lieben oder es soll ihr schlecht gehen!"
Hierauf schickte er einige Soldaten ab, das Mädchen herbeizuholen.
„Ich will ihr so begegnen, "sagte der König, „dass sie ihre
Hartnäckigkeit wohl bereuen wird."
Sie gingen in den Hof und fanden Jolietten in einem schönen Kleide von
weißem Atlas, ganz mit Gold gestickt und von Edelsteinen blitzend. In
ihrem ganzen Leben hatten sie eine so schöne Dame nicht gesehen, sie
hielten sie für eine Prinzessin und wagten nicht, sie anzureden.
Joliette aber fragte sie sehr freundlich: „Sagt mir doch, wen suchet
ihr hier?"
„Gnädige Frau“, versetzten sie, „wir suchen ein kleines unglückliches
Geschöpf, Namens Joliette."
„Ach, das bin ich ja“, versetzte sie, „was wollt ihr denn von mir?"
Sogleich ergriffen sie sie und banden sie an Händen und Füßen mit
starken Stricken, damit sie ihnen nicht entfliehe und führten sie vor
den boshaften König, welcher sich bei seinem Sohne befand. Da er sah,
wie schön sie war, fühlte er sich doch ein wenig bewegt und ganz
gewiss würde er Mitleid mit ihr gehabt haben, wenn er nicht eben das
boshafteste und grausamste Geschöpf von der Welt gewesen wäre'.
„Heda, du kleine Kröte, du kleine Spitzbübin, „du willst also meinen
Sohn nicht lieben? Er ist hundertmal schöner, als du — ein einziger
Blick von ihm ist mehr wert, als deine ganze Person. Nun rasch und
lieb' ihn auf der Stelle oder ich will dir die Haut über die Ohren
ziehen."
Die Prinzessin, die wie ein Espenlaub zitterte, warf sich auf die Knie
vor ihm und sagte: „Allergnädigster Herr, ich beschwör' euch, zieht
mir nicht die Haut über die Ohren, das wäre gar zu schrecklich; gebt
mir nur ein oder zwei Tage Bedenkzeit, dann könnt ihr ja immer noch
mit mir machen, was ihr wollt."
Der Sohn des Königs, voller Wut, wollte, dass man sie auf der Stelle
umbringe; endlich aber beschlossen sie doch, sie in einen Turm zu
sperren, wohin weder Sonne noch Mond schien.
Als die gute Fee in ihrem fliegenden Wagen mit der Königin ankam,
erfuhren sie alle diese Neuigkeiten. Die Königin vergoss die
bittersten Tränen und jammerte, dass sie zum Unglück bestimmt sei.
Lieber aber wollte sie, dass ihre Tochter tot wäre, als dass sie den
Sohn des boshaften Königs heirate.
„Nur Mut“, versetzte die Fee, „ich will sie dermaßen quälen, dass ihr
zufrieden und gerächt sein sollt."
Als nun der boshafte König zu Bette war, verwandelte sich die Fee
wieder in ein Mäuschen und schlüpfte unter das Kopfkissen. Kaum war er
eingeschlafen, so biss sie ihn in das Ohr: er schrie vor Schmerzen
laut auf und drehte sich auf die andere Seite — nun biss sie ihn in
das andere Ohr; er schrie, als ob man ihn umbringe und rief nach
Hülfe. Man kam und fand beide Ohren zerbissen, die so stark bluteten,
dass man das Blut nicht stillen konnte.
Während man überall nach der Maus suchte, spielte sie auf gleiche
Weise dem Sohne des Königs mit. Er ließ seine Leute kommen und zeigte
ihnen seine Ohren. Man fand sie ganz geschunden und legte ihm Pflaster
darauf.
Inzwischen kehrte das Mäuschen in das Zimmer des boshaften Königs
zurück, der ein wenig eingeschlummert war, und biss ihn in die Nase,
und da er mit den Händen danach fuhr, biss und zerkratzte sie ihm die
Hände. Nun schrie er: „Hülfe! ich bin verloren!“, — sie kroch ihm in
den Mund und biss ihn in die Zunge und in die Lippen.
Man kam herbei; er war außer sich, aber er konnte kaum noch reden, so
übel stand es mit seiner Zunge. Er machte ein Zeichen, dass eine Maus
da sei; man suchte in dem Strohsack, unter dem Kopfkissen, in allen
Ecken und Winkeln — aber sie war schon wieder bei dem Prinzen und fraß
ihm sein einziges noch gutes Auge aus — denn er war einäugig.
Er sprang wie ein Wahnsinniger auf, griff nach dem Degen und lief in
seiner Blindheit in das Zimmer seines Vaters. Dieser hatte auch seinen
Degen ergriffen und tobte und schwur, dass er alles umbringen wolle,
wenn man die Maus nicht erwische. Als er seinen Sohn so wie toll
hereinkommen sah, fuhr er ihn zornig an, und dieser, welcher in seiner
Betäubung die Stimme seines Vaters nicht erkannte, stürzte sich auf
ihn. Der boshafte König gab ihm voller Wut einen Stich durch den Leib,
und empfing eine gleiche Wunde. Darauf stürzten alle Beide tot zu
Boden.
Ihre Diener, welche sie tödlich hassten und ihnen nur aus Furcht
gehorcht hatten, banden sie jetzt mit Stricken an den Füßen und
schleppten sie in den Fluss, indem sie sich glücklich priesen, ihrer
los zu sein.
So war nun der boshafte König nebst seinem Sohne tot. Die gute Fee,
welche Zeugin von dem Allen gewesen war, holte jetzt die Königin
herbei und sie gingen zusammen zu dem schwarzen Turm, wo Joliette
unter mehr als vierzig Schlössern eingeschlossen war. Die Fee schlug
mit einem kleinen Haselnussstäbchen dreimal an eine große eiserne Tür,
welche sogleich aufsprang, und ebenso an die andern.
Sie fanden die arme Prinzessin in stummer Betrübnis dasitzen, die
Königin fiel ihr um den Hals und rief: „Mein geliebtes Kind, ich bin
deine Mutter, die Königin des Freudenlandes“, und darauf erzählte sie
ihr ihre ganze Geschichte.
Guter Gott! als Joliette so gute Neuigkeiten vernahm, fehlte wenig,
dass sie vor Freuden gestorben wär'. Sie warf sich der Königin zu
Füßen, umarmte ihre Knie, benetzte ihre Hände mit Tränen und küsste
sie tausendmal. Sie bedankte sich aufs Zärtlichste bei der Fee, die
ihr Körbe voll Schmuckfachen mitgebracht hatte, und auch das Bildnis
des Königs, welches in kostbare Edelsteine gefasst war.
„Halten wir uns nicht länger auf“, sagte die Fee; „es gilt jetzt einen
entscheidenden Streich, wir müssen uns in den großen Schlosssaal
begeben und eine Anrede an das Volk halten."
Sie ging voran, Ernst und Würde auf ihrem Antlitz; sie trug ein
prächtiges Kleid, welches eine Schleppe von mehr als zehn Ellen hatte
und die Königin hatte noch eine längere. Die Kronen, welche sie
aufgesetzt hatten, funkelten wie das hellste Sonnenlicht. Prinzessin
Joliette in ihrer Schönheit und Bescheidenheit, die keines Glanzes
weiter bedurften, ging hinterher. Sie grüßten alle Leute, denen sie
unterwegs begegneten, Klein und Groß. Man folgte ihnen, alles drängte
sich herbei, um zu erfahren, wer diese schönen Damen wären.
Als nun der Saal ganz voll war, sagte die gute Fee zu den Untertanen
des boshaften Königs, sie wolle ihnen die Tochter des Königs vom
Freudenlande, welche sie hier erblickten, zur Königin geben; unter
ihrer Herrschaft würden sie glücklich leben, und aller Trübsinn würde,
so lange sie regiere, aus Aller Herzen verbannt sein.
Bei diesen Worten schrieen alle: „Ja, ja, wir wollen sie zur Königin,
wir sind lange genug traurig und unglücklich gewesen."
Zu gleicher Zeit ertönten von allen Seiten hunderte von Instrumenten
und stimmten eine fröhliche Melodie an. Man gab sich die Hände und
tanzte im Kreise herum, um die Königin, um Joliette und die Fee und
sang dabei: „Ja, ja, wir wollen sie zur Königin."
Die allgemeine Freude war unbeschreiblich. Man schlug Tafeln auf, aß
und trank und ging vergnügt schlafen. Am andern Morgen stellte die Fee
der jungen Prinzessin den schönsten Prinzen vor, der je gelebt hat.
Sie hatte ihn in ihrem Luftgespann von dem Ende der Welt herbeigeholt.
Er war ganz so liebenswürdig, wie Joliette. Sie sah ihn kaum, so
liebte sie ihn. Er seinerseits war von ihr entzückt und die
Königin-Mutter war vor Freude ganz hin.
Man traf alle Anstalten zur Hochzeit und unter allgemeinem Jubel wurde
sie aufs Prächtigste gefeiert.
Märchen der Welt, nach einer Übersetzung von Dr. Kletke, 1846, mit angepasster Schreibweise.