Märchen Autoren: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Märchen Titel: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Märchen Themen: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Der Orangenbaum - Französische Märchen
Der Orangenbaum und die Biene
Es war einmal ein König und eine Königin, denen fehlte zu ihrem Glück
nichts weiter, als dass sie keine Kinder hatten. Endlich gebar die
Königin, die schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, ein wunderschönes
Töchterchen. Da gab es nun keine geringe Freude im königlichen Hause.
Jeder suchte nach einem Namen für die kleine Prinzessin, welcher Alles
ausdrücke, was man für sie empfinde. Endlich nannte man sie
Vielgeliebt, und die Königin ließ diesen Namen auf ein Herz von Türkis
eingraben: Vielgeliebt, Tochter des Königs der glücklichen Insel.
Dieses Herzchen von Türkis hing sie der Prinzessin um den Hals, in der
Meinung, es werde ihr Glück bringen; allein dergleichen Hoffnungen
sind trüglich, denn eines Tages im Sommer, als die Amme bei ganz
heiterem Wetter auf dem Meer spazieren fuhr, erhob sich mit einmal ein
so furchtbarer Sturm, dass es unmöglich war, ans Land zu gelangen, und
die kleine Barke, welche nur dazu bestimmt war, längs des Ufers auf-
und abzufahren, wurde bald in Stücke zerschmettert.
Die Amme und das ganze Schiffsvolk kamen um. Die kleine Prinzessin,
welche ruhig in ihrer Wiege schlief, schwamm auf dem Wasser hin und
her, bis die Wellen sie endlich an das Ufer, eines reizenden Landes
führten, welches aber fast unbewohnt war, seitdem der Menschenfresser
Ravagio und seine Iran Turmentine hier hausten; denn diese fraßen
Alles auf. Wenn dies abscheuliche Volk erst einmal Menschenfleisch
gekostet hat, so finden sie alle andern Gerichte unschmackhaft, und
Turmentine fand immer Mittel, sich welches zu verschaffen, denn sie
war eine halbe Fee.
Auf eine Stunde weit roch sie die arme kleine Prinzessin und lief
gleich ans Ufer, um sie aufzusuchen, bevor sie Ravagio fände, denn sie
waren Beide Eins so gefräßig als das andere und Eins eben so hässlich
als das andere. Sie hatten jedes nur ein Auge, welches mitten auf der
Stirn stand, ein Maul, welches so groß wie ein Backofen war, eine
breite, eingedrückte Nase, lange Eselsohren, borstige Haare und einen
Buckel vorn und hinten.
Gleichwohl wurde Turmentine bei dem Anblick der kleinen Prinzessin
von einem Mitleid bewegt, welches sie sonst nie empfunden hatte. Als
sie das Kind betrachtete, wie es in seiner Wiege lag, mit den Windeln
spielte, die Bäckchen wie weiße Rosen, rot angehaucht, das Mündchen
zum Lächeln halb geöffnet, so beschloss Turmentine, es nicht
aufzufressen, wenigstens nicht sogleich, sondern es borstige
aufzuziehen.
Sie nahm es auf ihre Arme, band sich die Wiege auf den Rücken und in
diesem Aufzuge kehrte sie nach ihrer Höhle zurück.
„Da, Ravagio“, sagte sie zu ihrem Mann, „da ist Menschenfleisch, fett
und zart, aber bei meiner Seele, du sollst es mir mit keinem Zahn
anrühren. Es ist ein wunderhübsches kleines Mädchen, ich will es
aufziehen und wir wollen es mit unserm Söhnchen verheiraten, damit wir
in unserm Alter hübsche Enkelchen kriegen, die uns Freude machen."
„Das ist nicht übel gedacht“, antwortete Ravagio; „du bist wahrhaft so
dumm nicht. Laß mich doch einmal das Kind ansehen, es scheint ja
wunderhübsch zu sein."
„Aber iss es ja nicht auf“, versetzte Turmentine und legte ihm die
Kleine in seine langen Klauen. „Nein, nein“, sprach er, „lieber stürb'
ich vor Hunger." Und nun überhäuften Ravagio, Turmentine und der
kleine Menschenfresser Vielgeliebt mit solchen Liebkosungen und gingen
so behutsam mit ihr um, dass es ein wahres Wunder war.
So wuchs nun das arme Kind, von einer Hindin genährt, welche
Turmentine ihr zur Amme gegeben hatte, unter den hässlichen
Menschenfressern auf, während man sie am Hofe ihres Vaters Tag und
Nacht beweinte und in der Tiefe des Meeres begraben glaubte. Der König
dachte darauf sich einen Erben zu wählen und fragte die Königin, was
sie dazu meine. Sie antwortete, er möge tun, was er für gut halte,
ihre teure Vielgeliebt sei gewiss tot; es sei nun bereits fünfzehn
Jahre, dass sie sie verloren hätten, und also durchaus keine Hoffnung
mehr, sie je wieder zu finden.
Der König beschloss demnach, seinen Bruder bitten zu lassen,
denjenigen seiner Söhne, der ihm der Herrschaft am würdigsten schiene,
auszuwählen und schleunigst zu ihm zu schicken. Als die Abgesandten
alle nötigen Befehle empfangen hatten, schifften sie sich ein. Der
Wind war günstig und der großen Entfernung ungeachtet langten sie in
kurzer Zeit bei dem Bruder des Königs an, der ein großes Königreich
besaß. Er nahm sie sehr freundlich auf und als sie ihn baten, einen
seiner Söhne mit ihnen zu senden, damit er dem Könige ihren Herrn
dereinst in der Herrschaft nachfolge, weinte er vor Freuden, und
antwortete ihnen, da sein Bruder ihm die Wahl überlassen habe, so
werde er ihm denjenigen von seinen Söhnen schicken, den er selbst für
sich gewählt haben würde. Dies sei der zweite Sohn, dessen Neigungen
so sehr mit seiner hohen Geburt übereinstimmten, dass er Alles, was
man von einem Prinzen nur wünschen könne, in größter Vollkommenheit
besitze.
Man holte den Prinzen Vielgeliebt (dies war sein Name) und wie viel
die Gesandten auch schon vorher von ihm gehört hatten, wurden sie doch
durch seinen Anblick ganz überrascht. Er war achtzehn Jahr alt, von
bewundernswürdiger Schönheit, die durch ein edles männliches Aussehen,
welches zugleich Ehrfurcht und Liebe einflößte, noch erhöht wurde. Man
teilte ihm den Wunsch seines Oheims mit, ihn bei sich zu haben, und
den Entschluss des Königs, seines Vaters, ihn sogleich mitreisen zu
lassen. Nun wurde Alles zur Reise in Stand gesetzt, der Prinz nahm
Abschied, schiffte sich ein, und befand sich bald auf dem hohen Meer.
Möge das Glück ihm günstig sein! Wir verlassen ihn einstweilen und
kehren zu Ravagio zurück um zu sehn, was unsre junge Prinzessin macht.
Sie ward mit jedem Tage schöner und alle Reize schienen in ihr
vereinigt. Die Grausamkeit, welche sie an den Ungeheuern sah, die sie
umgaben, machte sie um so sanfter; und seit sie den schauderhaften
Appetit derselben nach Menschenfleisch kannte, tat sie alles Mögliche
die Unglücklichen, die den Menschenfressern in die Hände sielen, zu
retten, so dass sie sich öfters dadurch der ganzen Wut Ravagios und
Turmentinens aussetzte. Ja sie würden sie zuletzt noch aufgefressen
haben, wenn sie der kleine Menschenfresser nicht wie seinen Augapfel
geliebt hätte. Was vermag die Liebe nicht! die Blicke der schönen
Prinzessin konnten das kleine Ungeheuer ganz zahm machen.
Aber ach! wie ward ihr zu Mut, wenn sie daran dachte, dass sie dieses
abscheuliche Geschöpf heiraten sollte! Obgleich sie von ihrem Stande
nichts wusste, schloss sie doch aus dem Reichtum ihrer Windeln, der
goldnen Kette und dem Türkis, die an ihrem Halse hingen, dass sie von
hoher Geburt sei und in ihren Empfindungen und ihrer Denkungsart fand
sie die Bestätigung. Sie konnte weder lesen noch schreiben, sie
verstand keine Sprache als das Kauderwelsch der Menschenfresser, sie
lebte in allem, was die Welt betraf, in vollkommener Unwissenheit,
aber sie hatte so richtige Grundsätze von Tugend und Ehre, als ob sie
die sorgfältigste Erziehung genossen hätte.
Sie hatte sich ein Kleid aus Tigerhaut gemacht, ihre Arme waren halb
nackend, ein Köcher mit Pfeilen hing über ihrer Schulter und ein Bogen
an ihrer Seite. Ihre blonden Haare waren nur mit einer Schnur von
Meerbinsen befestigt, und sielen ganz frei über Brust und Rücken
herab; die Halbstiefeln, welche sie trug, waren gleichfalls aus Binsen
geflochten. In diesem Aufzuge durchstrich sie die Wälder, ohne zu
wissen wie schön sie war. In dem Spiegel der Quellen sah sie das Bild
ihrer Schönheit, aber ohne dadurch selbstgefällig und eitel zu werden.
Sie aß nichts, als was sie auf der Jagd oder beim Fischfang erbeutete,
und unter diesem Vorwande entfernte sie sich oft aus der schrecklichen
Höhle, um sich dem Anblick der widerwärtigsten Ungeheuer, die es nur
auf der Welt geben konnte, zu entziehen.
„O Himmel“, rief sie unter Tränen aus, „was hab' ich denn verbrochen,
dass du mich diesem grausamen Menschenfresser zum Weibe bestimmt hast?
Warum ließest du mich nicht in den Fluten des Meeres untergehen? Warum
hast du mir ein Leben erhalten, welches ich auf eine so jammervolle
Art zubringen muss? Hast du kein Erbarmen mit meinem Zustande?" So
klagte sie, den Himmel um Beistand anflehend.
Wenn das Wetter stürmisch war, so eilte sie ans Ufer, um den
Unglücklichen, die das Meer etwa ans Land geworfen hätte, nach Kräften
beizustehen, und zu verhüten, dass sie nicht in die Höhle der
Menschenfresser kämen. Einstmals hatte es die ganze Nacht furchtbar
gestürmt, sie eilte also, da kaum der Tag anbrach, ans Meer, und
erblickte einen Menschen, der ein Brett zwischen den Armen hielt und
sich bemühte das Ufer zu gewinnen, obgleich ihn der heftige
Wellenschlag immer wieder zurücktrieb.
Die Prinzessin wäre ihm gern zu Hülfe gekommen, sie suchte ihn durch
Zeichen auf die zugänglichsten Stellen hinzuweisen, aber er sah und
hörte nicht. Bisweilen kam er so nahe, dass es schien, als brauche er
mir noch einen Schritt zu tun; aber plötzlich bedeckte ihn eine Welle
und schleuderte ihn wieder zurück. Endlich wurde er auf den Sand
geworfen und lag eine Zeitlang bewegungslos und ohne Besinnung.
Vielgeliebt näherte sich ihm und obgleich seine Blässe sie fürchten
ließ, dass er tot sei, so leistete sie ihm alle nur mögliche Hülfe;
sie pflückte eine Art Kräuter, deren Geruch so stark war, dass er aus
jeder Ohnmacht erweckte, zerdrückte sie zwischen den Händen und rieb
ihm die Lippen und Schläfe damit. Er schlug die Augen auf und war von
dem Aufzuge der Prinzessin und ihrer Schönheit so überrascht, dass er
nicht einig werden konnte, ob er träume oder wache.
Er sprach sie zuerst an, sie antwortete ihm, aber Keins verstand das
Andre und sie betrachteten sich aufmerksam mit Blicken voll Erstaunen
und Freude. Die Prinzessin hatte in ihrem Leben noch keine Männer
gesehen, außer einigen armen Fischern, die den Menschenfressern in die
Hände geraten waren, und die sie, wie schon erzählt, gerettet hatte.
Was musste sie also denken, als sie einen sehr reich gekleideten
Jüngling erblickte, so schön, wie es keinen schönern auf der Welt gab?
Denn mit einem Wort, es war der Prinz Vielgeliebt, ihr Vetter, dessen
Flotte, von einem furchtbaren Sturm ergriffen, an den Klippen
gescheitert war, wobei ein Teil der Mannschaft in den Wogen seinen Tod
fand, ein andrer Teil an unbekannte Küsten verschlagen wurde.
Der junge Prinz war seinerseits nicht wenig verwundert unter einer
solchen Tracht und in einem anscheinend wüsten Lande eine so
wunderbare Schönheit zu finden, die Alles übertraf, was er am Hofe
seines Vaters gesehen hatte. In dieser gegenseitige Überraschung
fuhren sie fort zu sprechen, ohne einander zu verstehen. Aber ihre
Augen und Gebärden halfen ihnen sich den Sinn ihrer Worte verständlich
zu machen. Plötzlich fiel der Prinzessin die Gefahr ein, welcher der
Fremdling ausgesetzt sei, und dies versetzte sie in eine tiefe
Schwermut und Niedergeschlagenheit, die sich sogleich in ihren Mienen
ausdrückten. Der Prinz in Furcht, sie könne von einem Unwohlsein
befallen sein, näherte sich ihr und wollte ihre Hände ergreifen, aber
sie stieß ihn zurück und machte ihm, so gut sie konnte, begreiflich,
er solle sich von hier fortbegeben. Sie fing an zu laufen, kehrte
wieder zurück und gab ihm zu verstehen, er solle es eben so machen. Er
floh und kehrte wieder um. Als er wieder zurückkam, wurde sie böse,
nahm einen Pfeil und richtete ihn auf sein Herz, um ihm anzudeuten,
dass man ihn töten würde. Er glaubte, sie wolle ihn töten, kniete
nieder und erwartete seinen Tod.
Nun wusste sie nicht mehr, was sie tun und wie sie sich verständlich
machen sollte, und indem sie ihn liebevoll anblickte, sagte sie: Wie,
du solltest das Opfer dieser Unmenschen werden? Diese nämlichen Augen,
welche dich mit Vergnügen betrachten, sollen mit ansehen, wie man dich
in Stücken zerreißt und ohne Barmherzigkeit verschlingt? Sie brach in
Tränen aus, und der bestürzte Prinz konnte nichts von Allem, was sie
tat, begreifen.
Indes gelang es ihr doch ihm verständlich zu machen, sie wolle nicht
dass er ihr folge; darauf nahm sie ihn bei der Hand, und führte ihn zu
einem Felsen, dessen Eingang nach dem Meere zuging. Die Höhle war sehr
tief, die Prinzessin kam oft hierher, ihr Unglück zu beweinen; auch
brachte sie zuweilen die Nächte hier zu, und mit der ihr eigenen
Geschicklichkeit hatte sie die Höhle mannigfach ausgeschmückt. Sie
hatte eine Tapete aus Schmetterlingsflügeln von den verschiedensten
Farben gemacht, und über Rohr, welches so ineinander geflochten war,
dass es eine Art Ruhebett bildete, hatte sie einen Teppich von Binsen
gebreitet; große Muscheln, deren sie sich als Blumenvasen bediente,
standen umher; und so gab es tausend artige Kleinigkeiten von ihrer
Hand, teils aus Fischgräten und Muscheln, teils aus Binsen und Rohr,
und diese kleinen saubern Arbeiten zeigten, bei aller Einfachheit, von
dem Geschmack und der Geschicklichkeit der Prinzessin.
Der Prinz war über den Anblick alles dessen ganz erstaunt, und da er
die Höhle für den Aufenthalt der Prinzessin hielt, so entzückte ihn
der Gedanke, hier mit ihr zusammen zu leben; denn schon war sein Herz
von Liebe zu der schönen Wilden ergriffen, die er allen Kronen vorzog,
zu denen ihn seine Geburt und der Wille seiner Angehörigen beriefen.
Die Prinzessin hieß ihn niedersitzen und um ihm anzudeuten, dass er
hier bleiben solle, bis sie ihm zu essen gebracht hätte, machte sie
das Band los, welches ihr Haar zusammenhielt, schlang es um den Arm
des Prinzen und band ihn an das kleine Bett; hierauf ging sie fort,
und aus Furcht ihr zu missfallen wagte er es nicht seinem Wunsche
nachzugeben, ihr zu folgen.
Als er allein war, überließ er sich seinen Betrachtungen. „Wo bin
ich?“, sprach er zu sich selbst. „In welches Land hat mich das
Schicksal geführt? Mein Schiff ist zertrümmert, meine Leute ertrunken,
und entblößt von allem finde ich statt einer Krone, die sich mir
darbot, einen trübseligen Felsen als letzte Zuflucht. Was soll hier
aus mir werden? Was wird das für ein Volk sein, welches diese Gegend
bewohnt? Wird es dem schönen Mädchen gleichen, welches mich rettete,
oder wird es, roh und grausam, mich noch ein traurigeres Schicksal
finden lassen als bisher?" Furcht und Hoffnung wechselten in seinem
Herzen, aber der Gedanke an die Schönheit der jungen Wilden verdrängte
jeden andern.
Sie kehrte so rasch als möglich zurück, ganz Atemlos und mit allerhand
Speisen beladen, die sie vor den Prinzen hinsetzte, Vogeleiern, in der
Sonne gebraten, Erdbeeren, Himbeeren, Kirschen und anderen Früchten.
Die Schüsseln waren aus Zedernholz, das Messer von Stein, große weiche
Baumblätter dienten als Servietten, eine Muschel als Trinkschale.
Der Prinz bezeigte ihr auf alle Weise seine Dankbarkeit, die sie mit
freundlichem Lächeln aufnahm. Aber die Stunde der Trennung war
gekommen; sie machte ihm verständlich, dass sie fortgehen müsse, Beide
seufzten und brachen in Tränen aus, die jedes dem andern zu verbergen
suchte. Sie stand auf und wollte gehen; der Prinz stieß einen lauten
Schrei aus, warf sich zu ihren Füßen, und bat sie zu bleiben; aber sie
stieß ihn sanft zurück, und er sah wohl, dass er ihr gehorchen müsste.
Beide brachten die Nacht sehr traurig hin. Als die Prinzessin sich
wieder in der Höhle mitten unter den Menschenfressergezücht befand,
als sie das schreckliche Ungetüm betrachtete, welches ihr Gemahl
werden sollte, und den liebenswürdigen
Fremdling dagegen hielt, den sie eben verlassen hatte, war sie nahe
daran sich kopfüber ins Meer zu stürzen. Dazu kam die Furcht, dass
Ravagio und Turmentine das Menschenfleisch riechen und gradenwegs nach
dem Felsen rennen und den Prinzen Vielgeliebt auffressen möchten.
Diese mannigfachen Besorgnisse hielten sie die ganze Nacht wach. Mit
Tagesanbruch stand sie auf, und eilte oder flog vielmehr nach dem
Ufer, beladen mit Früchten, Milch und Allem, was sie Schmackhaftes
hatte finden können. Der Prinz schlief noch, von der Anstrengung des
vorhergehenden Tages erschöpft. Sie weckte ihn auf und sagte ihm, sie
stehe Todesangst aus, dass Ravagio und Turmentine ihn entdecken
könnten; sie wage nicht zu hoffen, dass er sich in diesem Felsen noch
länger in Sicherheit befinde, und wie schmerzlich ihr auch seine
Entfernung sei, so beschwöre sie ihn doch, so weit als möglich von
hier zu fliehen.,
Bei diesen Worten füllten sich ihre Augen mit Tränen, sie faltete die
Hände und bat ihn auf das Rührendste. Sie deutete auf den Weg, bis er
endlich den Sinn ihrer Zeichen und Worte verstand; aber er gab ihr
seinerseits zu verstehen, dass er lieber sterben als sie verlassen
wolle. Dieser Beweis seiner Anhänglichkeit rührte sie so sehr, dass
sie die goldene Kette und das Herz von Türkis, welche die Königin,
ihre Mutter, ihr um den Hals geschlungen hatte, abnahm und es um den
Arm des Prinzen band. Dieser bemerkte sogleich die Schriftzeichen,
welche auf den Türkis eingegraben waren; er betrachtete sie mit
Aufmerksamkeit und las: Vielgeliebt, Tochter des Königs der
glücklichen Insel.
Sein Erstaunen war unbeschreiblich. Er wusste, dass die kleine
Prinzessin, die verloren gegangen war, Vielgeliebt hieß, und zweifelte
nicht, dass dieser Türkis ihr angehöre, aber das wusste er nicht, ob
die schöne Wilde die Prinzessin sei oder ob das Meer etwa den Stein
ans Ufer geworfen habe. Er betrachtete Vielgeliebt mit der größten
Aufmerksamkeit, und je länger er sie betrachtete, desto mehr entdeckte
er gewisse Familienzüge, und sein Herz vor allem versicherte ihn, dass
er sich nicht täusche.
Mit Erstaunen verfolgte sie seine Blicke und Gebärden; wie er die
Augen zum Himmel aufschlug, um ihm zu danken, ihre Hände ergriff und
ihr seine Freude und Erkenntlichkeit auf jede Weise zu erkennen zu
geben suchte. — So verstrichen vier Tage; jeden Morgen brachte die
Prinzessin so viel an Speisen herbei, als er bedurfte; sie blieb so
lange sie konnte in seiner Gesellschaft, und die Stunden flogen rasch
dahin, obgleich ihre Unterhaltung noch sehr unvollständig war.
Eines Abends kam sie ziemlich spät nach Hause und fürchtete schon von
der bösen Turmentine tüchtig ausgescholten zu werden: aber wie
erstaunte sie den freundlichsten Empfang zu finden. Der Tisch war mit
Früchten besetzt und Ravagio sagte ihr, sie seien alle für sie
bestimmt und sein Söhnchen habe sie gepflückt; es sei endlich Zeit,
dass er heirate und in drei Tagen solle die Hochzeit sein.
Welche Nachricht! Was konnte es auf der ganzen Welt für diese
liebenswürdige Prinzessin Schrecklicheres geben? Sie meinte vor Angst
und Abscheu auf der Stelle sterben zu müssen; aber sie verbarg ihren
Kummer, und antwortete, sie gehorche ohne Widerstreben, nur möchten
sie die Hochzeit noch einige Tage aufschieben.
Ravagio ergrimmte über diese Antwort und schrie: „Was hält mich denn
zurück, dich nicht auf der Stelle aufzufressen?"
Die arme Prinzessin fiel ohnmächtig vor Furcht Turmentinen und ihrem
Sohn in die Klauen, und der letztere, welcher in die Prinzessin sehr
verliebt war, bat bei Ravagio so lange für sie, bis er ihr verzieh.
Vielgeliebt machte die Nacht kein Auge zu, sie erwartete den Tag mit
größter Ungeduld; kaum brach er an, so eilte sie zum Felsen, und als
sie den Prinzen erblickte, stieß sie ein schmerzhaftes Geschrei aus
und vergoss einen Strom von Tränen. Er war ganz bestürzt darüber und
konnte die Ursache ihrer Betrübnis nicht begreifen. Endlich fand sie
doch ein Mittel, sich ihm verständlich zu machen. Sie band ihr langes
Haar los, setzte einen Blumenkranz auf ihr Haupt und indem sie seine
Hand ergriff, gab sie ihm zu verstehen, dass sie gezwungen werde,
einem Andern ihre Hand zu reichen.
Sein Schmerz war unbeschreiblich; er kannte nicht Mittel noch Wege zu
ihrer Rettung und sie eben so wenig, sie weinten, sahen sich an und
beschlossen lieber zu sterben als sich zu trennen.
Sie blieb bis auf den Abend bei ihm; aber die Nacht brach früher ein,
als sie erwartete, und da sie, ganz in Gedanken versunken, auf ihre
Schritte nicht Acht gab, geriet sie im Wald auf einen wenig betretenen
Weg und trat sich einen langen Dorn tief in den Fuß. Zum Glück war sie
von ihrer Höhle nicht mehr weit entfernt, mit großer Anstrengung
schleppte sie sich bis nach Hause und ihr Fuß schwamm ganz in Blut.
Ravagio, Turmentine und die kleinen Menschenfresser bezeigten sich
sehr hilfreich; sie zogen ihr den Dorn aus der Wunde, wobei sie nicht
geringe Schmerzen erduldete, legten heilsame Kräuter auf den Fuß und
verbanden ihn.
Man kann sich denken, in welcher Sorge sie um ihren geliebten Prinzen
war. „Ach“, sagte sie, „morgen werde ich nicht ausgehen können, was
wird er denken, wenn er mich nicht sieht? Wird er nicht glauben, man
habe mich zur Heirat gezwungen? Und wer wird ihm Nahrung bringen? Ach,
er wird mich aufsuchen und dann ist er verloren. Wenn ihn Ravagio
entdeckt, so ist sein Tod gewiss." In Tränen und Seufzen brachte sie
die Nacht zu; am andern Morgen wollte sie zeitig aufstehen und
fortgehen; aber sie konnte kaum auftreten, und Turmentine hielt sie
zurück und sagte drohend: „Wenn du einen Schritt tust, so fress' ich
dich auf."
Inzwischen stand der Prinz, da die Stunde verstrich, in der sie zu
kommen pflegte, große Angst aus, und sein Kummer und seine Besorgnis
vermehrten sich mit jedem Augenblick; endlich beschloss er, nicht
länger zu warten,' sondern ohne Furcht vor dem Tode, seine geliebte
Prinzessin aufzusuchen.
Er ging fort, ohne zu wissen wohin, er verfolgte einen betretenen
Fußsteg, den er am Eingang des Waldes bemerkte. Nachdem er eine Stunde
zugeschritten war, hörte er ein Geräusch und erblickte die Höhle, aus
welcher ein dicker Rauch aufstieg. In der Hoffnung dort von seiner
Geliebten Nachricht zu erhalten, trat er hinein und kaum hatte er
einige Schritte vorwärts getan, als ihn Ravagio erblickte, ihn
plötzlich mit seinen furchtbaren Klauen ergriff und ihn verschlingen
wollte. Aber das Geschrei, welches der Prinz ausstieß, indem er sich
gegen den Menschenfresser wehrte, drang zu den Ohren der Prinzessin,
die in einer Nebenhöhle lag; bei diesem Ton konnte sie nichts
zurückhalten, sie verließ ihr Lager, näherte sich Ravagio, welcher den
Prinzen in seinen Krallen hielt, und bleich und zitternd, als solle
sie selber gefressen werden, warf sie sich vor ihm auf die Knie und
beschwor ihn diesen Leckerbissen bis auf ihren Hochzeitstag
aufzusparen, wo sie mit davon essen wolle.
Ravagio war über diese Bitte und den Gedanken, dass die Prinzessin die
Sitten ihrer Schwiegereltern annehmen wolle, so erfreut, dass er den
Prinz losließ und in die Höhle einsperrte, wo die kleinen
Menschenfresser schliefen.
Vielgeliebt bat um Erlaubnis ihn gut füttern zu dürfen, damit er nicht
mager werde und dem Hochzeitsschmause Ehre mache. Der Menschenfresser
erteilte sie ihr und sie brachte also dem Prinzen das Beste, was sie
nur bekommen konnte. Als er sie eintreten sah, war seine Freude so
groß, dass er fein Unglück fast vergaß; aber die Wunde an ihrem Fuß
setzte ihn aufs neue in Schrecken. Sie weinten lange Zeit mit
einander, und der Prinz würde keinen Bissen gegessen haben, wenn ihm
seine teure Prinzessin nicht Alles so anmutig und flehend dargereicht
hätte, dass er es unmöglich zurückweisen konnte.
Sie ließ durch die kleinen Menschenfresser frisches Moos
herbeischaffen, breitete einen Teppich von Vogelfedern darüber, und
bedeutete den Prinzen, dass dies sein Lager sei. Turmentine rief nach
ihr und sie konnte ihm nur noch die Hand zum Lebewohl reichen, die er
zärtlich küsste.
Ravagio, Turmentine und die Prinzessin schliefen in einer der
Seitenhöhlen; und die Menschenfresserkinder mit dem Prinzen in einer
andern; sie trugen, wie es bei ihnen gebräuchlich ist, sämtlich statt
der Schlafmützen in der Nacht goldene Krönchen auf dem Kopf. Als nun
Alles schlief, empfand die Prinzessin mit einmal bei dem Gedanken an
den Prinzen Vielgeliebt eine tödliche Unruhe. Es fiel ihr nämlich ein,
dass es um den Prinzen unfehlbar geschehen sei, des Versprechens
ungeachtet, welches Ravagio und Turmentine gegeben hatten, ihn nicht
aufzufressen, wenn sie ja in der Nacht Hunger empfänden. Und das
begegnete ihnen fast immer, wenn sich Menschenfleisch zu Hause befand.
Der Gedanke einer solchen Möglichkeit beunruhigte sie dermaßen, dass
sie nach einiger Zeit aufstand, ihre Tigerhaut umnahm, und ganz leise
in die Höhle schlich, wo die kleinen Menschenfresser schliefen; sie
nahm dem ersten besten die Krone vom Kopf und setzte sie dem Prinzen
auf, der, obschon er wach war, sich doch ganz ruhig verhielt, weil er
nicht wusste, wer da sei. Darauf kehrte die Prinzessin auf ihr Lager
zurück.
Sie hatte sich kaum niedergelegt, als Ravagio, welcher von der guten
Mahlzeit träumte, die er von dem Prinzen halten würde, bei dem
Gedanken aufwachte, und je mehr er daran dachte, desto heftigeren
Appetit danach empfand, so dass er rasch aufstand und gleichfalls in
die Höhle zu den Kindern ging. Da er nichts deutlich erkennen konnte,
so fühlte er mit der Hand an den Köpfen umher, packte den, der keine
Krone auf dem Kopf hatte, und verspeiste ihn wie ein junges Huhn. Die
arme Prinzessin, welche auf ihrem Lager hörte, wie er die Knochen des
Unglücklichen zermalmte, starb fast vor Furcht, es könne gleichwohl
der Prinz sein, und der Prinz seinerseits, der ganz nahe dabei war,
empfand alle die Unruhe, die man in einem solchen Fall haben kann.
Der Anbruch des Tages befreite die Prinzessin von ihrer furchtbaren
Besorgnis); sie eilte zu dem Prinzen, dem sie durch Zeichen die Qual,
welche sie ausgestanden hatte, zu erkennen gab; er hatte ihr so viel
zu erwidern, aber Turmentine, die nach ihren Kindern sehen kam, störte
ihn darin. Als sie die Höhle voll Blut sah und fand, dass ihr jüngstes
fehle, stieß sie einen entsetzlichen Schrei aus. Ravagio überzeugte
sich bald, welchen schönen Streich er gespielt hatte, aber das Übel
war nicht wieder gut zu machen. Er sagte ihr ins Ohr, er habe sich vor
Hunger in der Wahl vergriffen, und geglaubt Menschenfleisch zu
fressen.
Turmentine musste sich wohl dabei beruhigen, denn Ravagio war so wild,
dass, wenn sie seine Entschuldigungen nicht im Guten hätte gelten
lassen, er sie selber vielleicht aufgefressen hätte.
Die Prinzessin hörte nicht auf, auf Mittel zudenken, dem Prinzen das
Leben zu retten. In der folgenden Nacht stand sie, von der nämlichen
Besorgnis gequält, ganz leise auf, begab sich in die Höhle, wo der
Prinz lag, nahm behutsam einem kleinen Menschenfresser die Krone vom
Kopf und fetzte sie ihrem Geliebten auf.
Die Prinzessin hatte nie einen glücklicheren Einfall gehabt. Ohne
diese Vorsicht war es um den Prinzen geschehen. Nämlich die grausame
Turmentine fuhr plötzlich aus dem Schlaf auf und da sie an den Prinzen
dachte, der ihr sehr schmackhaft vorgekommen war, empfand sie eine
solche Furcht, Ravagio könne ihn ganz allein verzehren, dass sie es
für das Beste hielt, ihm zuvorzukommen. Ohne ein Wort zu sagen,
schlich sie in die Kammer ihrer Kleinen, fühlte behutsam nach ihren
Kronen auf dem Kopf und eins der kleinen Menschenfresser, welches
keine hatte, verschwand auf drei Mundbissen.
Der Prinz und die Prinzessin hörten, vor Furcht zitternd, Alles mit
an, aber Turmentine verlangte, nachdem sie dies Geschäft abgemacht
hatte, nur nach Schlaf und sie brachten den übrigen Teil der Nacht in
Sicherheit zu.'
„O Himmel steh uns bei“, sagte leise die Prinzessin! „Zeig mir ein
Mittel, welches uns aus dieser äußersten Gefahr rettet." Der Prinz
flehte nicht minder; zuweilen fiel es ihm ein, die Ungeheuer
anzugreifen und zu bekämpfen, aber welchen Erfolg durfte er hoffen
gegen diese riesenhaften Geschöpfe, deren Haut fast undurchdringlich
war? Nein, nur die List konnte sie aus diesen schrecklichen Aufenthalt
befreien.
Als der Tag anbrach und Turmentine merkte, was sie angerichtet hatte,
so erfüllte sie die Luft mit einem furchtbaren Geheul. Ravagio schien
nicht weniger außer sich, und es fehlte nicht viel, so hätten sie den
Prinzen und die Prinzessin gepackt und ohne Barmherzigkeit
aufgefressen.
Plötzlich fiel der Prinzessin, welche sich in einem fort den Kopf
zerbrach, ein, dass Turmentine ein Stäbchen von Elfenbein besitze, mit
dem sie allerhand Wunder verrichtete, ohne dass sie selbst die Ursache
davon angeben konnte. Wenn nun das Stäbchen, dachte die Prinzessin,
bloß auf ihre Worte so erstaunliche Dinge verrichtet, warum sollte es
sie nicht gleichfalls auf die meinigen tun?
Von diesem Gedanken voll, lief sie in die Höhle, wo Turmentine
schlief, suchte das Stäbchen, welches tief in einer Höhlung steckte,
und als sie es in der Hand hielt, sagte sie: „Ich wünsche im Namen der
königlichen Fee Trusio die Sprache reden zu können, die der spricht,
den ich liebe."
Sie hätte wohl noch mehr gewünscht, aber Ravagio nahte. Die Prinzessin
schwieg, legte das Stäbchen wieder an seinen Ort und eilte zum
Prinzen. Wie angenehm überrascht wurde dieser, die schöne Wilde in
seiner Sprache reden zu hören! Sie entdeckte ihm die Macht des
Zauberstäbchens und er unterrichtete sie über ihre Abkunft und ihre
Angehörigen. Doch es war keine Zeit zu verlieren, es galt so schleunig
als möglich sich aus den Klauen der erbosten Ungeheuer zu retten und
die Prinzessin sagte zu ihrem Geliebten, sie müssten sich, sobald die
Menschenfresser in der nächsten Nacht eingeschlafen wären, auf
Ravagios großes Kamel setzen, und es dem Himmel überlassen, wohin er
sie führen werde.
Die so ersehnte Nacht kam heran: die Prinzessin nahm Mehl und knetete
mit ihren weißen Händen einen Kuchen, in den sie eine Bohne tat;
darauf sagte sie, das Zauberstäbchen in der Hand: „O du Bohne, kleine
Bohne, ich wünsche im Namen der königlichen Fee Trusio, dass du
redest, sobald es nötig ist, so lange bis du gebacken bist."
Sie legte den Kuchen in die heiße Asche und eilte zu dem Prinzen, der
sie mit Ungeduld erwartete. „Rasch fort“, sagte sie zu ihm, „das Kamel
steht angebunden im Walde."
„Liebe und Glück mögen uns leiten“, antwortete ganz leise der junge
Prinz. So eilten sie fort, der Mond leuchtete ihnen, sie fanden das
Kamel, stiegen auf, und machten sich auf den Weg, ohne zu wissen
wohin.
Inzwischen wälzte sich Turmentine, die noch voll Grimm und Betrübnis
war, unruhig im Schlafe hin und her, bis sie aufwachte. Sie streckte
den Arm aus, um zu fühlen, ob die Prinzessin schon in ihrem Bett wäre
und da sie sie nicht fand, so rief sie mit einer Donnerstimme: „Wo
bist du denn, Mädchen?"
„Ich stehe hier beim Feuer“, antwortete die Bohne.
„Willst du wohl schlafen kommen“, brummte Turmentine.
„Gleich, gleich“, versetzte die Bohne, „schlaft nur ganz ruhig."
Turmentine fürchtete sich den Ravagio aufzuwecken und schwieg; aber da
sie nach einigen Stunden wieder aufwachte, und das Bett der Prinzessin
noch immer leer fand, so schrie sie: „Wie, du kleine Hexe, du willst
dich also nicht schlafen legen?"
„Ich wärme mich so viel ich kann“, antwortete die Bohne.
„So wollt' ich, dass du zur Strafe mitten im Feuer lägst“, sagte die
Menschenfresserin.
„Ich lieg' auch darin“, entgegnete die Bohne, „und man kann sich nicht
besser wärmen als ich."
So führten sie noch mehrere Gespräche, welche die Bohne für eine Bohne
ganz vortrefflich beantwortete. Endlich gegen Morgen rief Turmentine
die Prinzessin noch einmal; aber die Bohne, welche bereits gebacken
war, antwortete nicht mehr. Dies Schweigen beunruhigte sie, sie stand
hastig auf, sah sich um, rief und suchte überall. Die Prinzessin, der
Prinz und das Zauberstäbchen waren verschwunden. Nun schrie sie so
laut, dass Wald und Tal davon widerhallte: „Wach auf, mein Schatz,
steh auf, lieber Ravagio, wir sind verraten, unser Menschenfleisch ist
fort."
Ravagio öffnete sein Auge, sprang mitten in die Höhle wie ein Löwe,
kupferrot vor Zorn, brüllte, heulte und schäumte. „Rasch, rasch“, rief
er, „meine Siebenmeilenstiefeln, meine Siebenmeilenstiefeln, dass ich
den Fortläufern nachsetze. Ich will sie bald erwischt haben, die
sollen mir trefflich schmecken."
Er zog nun seine Stiefeln an, in welchen er auf jeden Schritt nicht
weniger als sieben Meilen machte. Ach, was hilft da alle Schnelligkeit
eines Kamels gegen solche Schritte!
Voll Freude, bei einander zu sein, sich verstehen zu können, und nicht
mehr verfolgt zu werden, setzten der Prinz und die Prinzessin ihren
Weg fort, als die Prinzessin, welche zuerst den schrecklichen Ravagio
bemerkte, schrie: „Mein Prinz, wir sind verloren, seht das furchtbare
Ungeheuer, welches wie ein Donner auf uns zustürmt."
„Was fangen wir an“, sagte der Prinz, „was soll aus uns werden? Ach,
wenn ich allein wär', so wind' ich mein Leben nicht achten; aber das
deinige, meine teure Gebieterin, ist in Gefahr."
„Ich weiß keine Rettung“, versetzte die Prinzessin Vielgeliebt
weinend, „wenn uns der Zauberstab nicht hilft; sonst sind wir
unfehlbar verloren. — Ich wünsche“, sprach sie darauf, „im Namen der
königlichen Fee Trusio, dass unser Kamel in einen See, der Prinz in
eine Barke und ich in ein altes Weib, welches die Barke führt,
verwandelt werde."
Augenblicklich ging die Verwandlung vor sich. Ravagio gelangte an das
Ufer des Sees und schrie: „Holla, ho, alte Mutter, habt ihr nicht ein
Kamel, einen jungen Menschen und ein Mädchen vorbeikommen sehn?"
Die Schifferfrau, welche mitten auf dem See hielt, setzte ihre Brille
auf die Nase, und indem sie Ravagio aufmerksam betrachtete, gab sie
ihm durch Zeichen zu verstehen, sie habe sie gesehen und sie wären die
Wiese entlang geritten.
Der Menschenfresser glaubte ihr und nahm den Weg zur Linken. Die
Prinzessin wünschte hierauf ihre natürliche Gestalt wieder anzunehmen,
und berührte sich dreimal mit ihrem Zauberstabe und eben so die Barke
und den See. Nachdem sie wieder ihre vorige Gestalt erhalten hatten,
stiegen sie auf das Kamel und schlugen den Weg zur Rechten ein, um
ihrem Verfolger nicht zu begegnen.
Sie eilten so rasch als möglich vorwärts, und wünschten sehr Jemanden
zu finden, der ihnen den Weg nach der glücklichen Insel zeigte. Sie
lebten nur von Früchten, tranken Quellwasser, und des Nachts schliefen
sie unter den Bäumen. Die Gefahr,» in der sie schwebten, erschreckte
sie nicht so sehr, dass sie nicht das Vergnügen, der Höhle entronnen
und bei einander zu sein, lebhaft empfunden hätten. Seitdem sie sich
verstanden, hörten sie nicht auf sich zu unterhalten und fanden in
ihrer gegenseitigen Liebe unerschöpflichen Stoff dazu.
Als Ravagio die Berge, die Wälder, die Täler durchirrt hatte, kehrte
er in seine Höhle zurück, wo Turmentine und die kleinen
Menschenfresser ihn mit Ungeduld erwarteten. Er war mit fünf, sechs
Menschen bepackt, die ihm unglücklicherweise in die Klauen geraten
waren.
„Nun“, schrie ihm Turmentine entgegen, „hast du sie gefunden und
aufgefressen, die Nichtswürdigen, das Diebspack, das Menschenfleisch?
Hast du nicht wenigstens mir die Hände oder die Füße aufgehoben?"
„Ich glaube, sie sind davongeflogen“, versetzte Ravagio, „ich bin nach
allen Seiten gelaufen wie ein Wolf, und habe nichts von ihnen gesehen;
nur eine alte Frau, die auf einem Teich in einer Barke fuhr, gab mir
Nachricht von ihnen."
„Und was hat sie dir denn von ihnen gesagt?“, fragte Turmentine
ungeduldig.
„Sie hätten sich links gewendet“, versetzte Ravagio.
„So wahr ich lebe“, schrie sie, „du hast dich anführen lassen; ich
glaube gewiss, sie war es selbst, mit der du gesprochen hast. Kehr'
wieder um und wenn du sie erwischst, so verschon' sie nicht einen
Augenblick."
Ravagio schmierte seine Siebenmeilenstiefeln und machte sich über Hals
und Kopf wieder auf den Weg. Unser junges Paar kam eben aus einem
Walde heraus, wo es übernachtet hatte. Ihr Schreck war nicht gering,
als sie ihn erblickten. „Meine Geliebte“, sagte der Prinz, „da naht
unser Verfolger, ich fühle Mut genug, mich ihm entgegenzustellen,
würdest du nicht so viel haben, um ganz allein die Flucht zu
ergreifen?"
„Nein, Nein“, entgegnete sie, „ich verlasse dich nie. Aber verlieren
wir keine Zeit; das Zauberstäbchen wird uns vielleicht von großem
Nutzen sein." — „Ich wünsche“, sagte sie, „im Namen der königlichen
Fee Trusio, dass sich der Prinz in ein Bildnis verwandle, das Kamel in
einen Pfeiler und ich in einen Zwerg."
Die Verwandlung geschah und der Zwerg schickte sich an, ins Horn zu
stoßen, als sich Ravagio mit großen Schritten näherte und ihn fragte:
„Sage mir, du kleines Ungeheuer, haft du nicht einen hübschen
Jüngling, ein junges Mädchen und ein Kamel hier vorbeikommen sehn?"
„Da kann ich euch Auskunft geben“, versetzte der Zwerg: „Wenn ihr etwa
ein feines Herrchen meint, mit einer wunderschönen Dame und ihrem
Reittier, so hab' ich sie gestern zu der nämlichen Stunde gesehen; sie
waren samt sehr wohlgemut!, der feine Kavalier empfing den Dank im
Ringen und Turnieren, welches sie zu Ehren der schönen Merlusine
anstellten, die ihr auf diesem Bilde in sprechender Ähnlichkeit
abgemalt seht. Viel vornehme Herren und tapfere Ritter brachen hier
Lanzen, Helme und Pickelhauben; es war ein harter Strauß, und der Dank
eine schöne Armspange von Gold, besetzt mit Perlen und Diamanten. Bei
der Abreise sagte die unbekannte Dame zu mir: „Freund Zwerg, ohne
lange Redensarten, ich bitte dich um eine Gunst, im Namen deiner
liebsten Freundin"; worauf ich ihr antwortete: „Sie soll euch nicht
versagt werden, ich 'verspreche sie euch, im Fall sie in meiner Macht
steht." „Wenn du den großen Riesen gewahr wirst, der sein Auge mitten
auf der Stirn trägt, so bitte ihn höflichst, dass er uns in Frieden
ziehen lasse." Darauf spornte sie ihren Zelter an und sie entfernten
sich."
„Wohin?“, fragte Ravagio.
„Über die grüne Wiese hin, die sich am Walde hinzieht“, versetzte der
Zwerg.
„Wenn du mich belügst“, sagte der Menschenfresser, „so sei versichert,
kleiner Taugenichts, dass ich dich auffresse, dich, mitsamt deinem
Pfeiler und dem Bildnis der Merlusche."
„Trug und List war nie in mir“, erwiderte der Zwerg, „aus meinem Munde
ist nie eine Lüge hervorgegangen, kein Mensch auf Erden kann mich
eines Betruges zeihen: aber beeilt euch, wenn ihr sie noch vor
Untergang der Sonne erreichen wollt."
Der Menschenfresser entfernte sich. Der Zwerg nahm seine vorige
Gestalt wieder an und berührte das Bild und den Pfeiler, die sich
wieder in den Prinzen und das Kamel verwandelten.
Welche Freude für die Liebenden! „Nein“, sagte der Prinz, „nie hab'
ich eine so lebhafte Unruhe ausgestanden, meine teure Vielgeliebt. Wie
meine Liebe für dich In jedem Augenblicke wächst, so vermehrt sich
auch meine Angst, sobald ich dich in Gefahr sehe."
„Und mir schien es“, sagte sie, „als empfände ich gar keine Furcht,
denn Ravagio frisst keine Bilder, und was mich betraf, die ich allein
seiner Wut ausgesetzt war, so war mein Aussehen wenig appetitlich, und
endlich würde ich ja gern mein Leben hingeben, um das deinige zu
retten."
Ravagio lief vergebens umher; er fand weder den Prinzen noch die
Prinzessin; er war müde wie ein Hund, und trat den Rückweg nach seiner
Höhle an.
„Wie, du kommst wieder ohne unsere Gefangnen?“, schrie Turmentine,
indem sie ihre schmutzigen Haare zerraufte. „Komm mir nicht zu nahe,
oder ich erwürge dich."
„Ich habe Niemanden angetroffen“, antwortete er, „als einen Zwerg,
einen Pfeiler und ein Bild."
„So wahr ich lebe“, fuhr sie fort, „das waren sie! Ich bin wohl eine
rechte Närrin, dass ich dir die Sorge für meine Rache überlasse, als
wenn ich zu klein wäre, sie selbst zu nehmen. Ja ja, ich will mich auf
den Weg machen, ich will mir die Siebenmeilenstiefeln anziehen und
werde so schnell damit gehen wie du."
Sie zog die Siebenmeilenstiefeln an und machte sich auf den Weg. Wie
schnell auch der Prinz und die Prinzessin reisten und welchen
Vorsprung sie gewonnen hatten, den Siebenmeilenstiefeln konnten sie
nicht entgehen. Sie sahen die Menschenfresserin daher kommen, die eine
bunte Schlangenhaut übergeworfen hatte und über der Schulter eine
Eisenkeule von entsetzlichem Gewicht trug. Sie sah sich scharf nach
allen Seiten um und würde den Prinzen und die Prinzessin jedenfalls
entdeckt haben, wenn sie nicht eben tief im Walde verborgen gewesen
wären.
„Wir sind verloren“, sagte die Prinzessin Vielgeliebt weinend, „da ist
die grausame Turmentine, bei deren Anblick mein Blut gerinnt; sie ist
klüger als Ravagio, wenn einer von uns Beiden mit ihr spricht, so wird
sie uns erkennen und damit ansangen, dass sie uns auffrisst. Ach, es
wird bald mit uns zu Ende sein!"
„O Liebe, Liebe“, rief der Prinz, „verlass uns nicht; gibt es
zärtlichere Herzen als die unsrigen, eine reinere Neigung? Ach meine
teure Vielgeliebt“, fuhr er fort, indem er ihre Hand ergriff,
„solltest du bestimmt sein auf eine so schreckliche Art deinen Tod zu
finden?"
„Nein, nein“, sagte sie, „ich fühle mich aufs neue von Mut und
Standhaftigkeit durchdrungen; wohlan, mein kleines Stäbchen, tu deine
Pflicht. Ich wünsche im Namen der königlichen Fee Trusio, dass das
Kamel sich in einen Kübel verwandle, mein teurer Prinz in einen
schönen Orangenbaum und ich in eine Biene." Sie tat wie gewöhnlich
ihre drei Schläge auf jedes von ihnen und augenblicklich war die
Verwandlung geschehen, so dass Turmentine, als sie ankam, nicht das
Mindeste davon merkte.
Das schreckliche Weib hatte sich ganz außer Athen, gelaufen und setzte
sich unter den Orangenbaum. Die Prinzessin Biene machte sich's zum
Vergnügen sie an tausend Orten zu stechen und wie hart auch
Turmentinens Haut war, so drang der Bienenstachel dennoch durch und
brachte sie zum Schreien. Sie wälzte sich auf dem Grase wie ein Stier
oder ein junger Löwe, der von Bremsen gestochen ist, denn die eine
Biene verrichtete so viel als ihrer hundert. Prinz Orangenbaum war in
Todesangst, sie könne sich erwischen lassen und getötet werden.
Endlich aber entfernte sich Turmentine, ganz mit Beulen bedeckt.
Nun wollte die Prinzessin wieder ihre natürliche Gestalt annehmen, als
unglücklicherweise einige Reisende durch den Wald kamen, den schönen
elfenbeinernen Stab bemerkten, ihn aufhoben und mit fort nahmen.
Es konnte nicht leicht etwas Unangenehmeres begegnen. Der Prinz und
die Prinzessin hatten zwar den Gebrauch der Sprache nicht verloren;
aber dies war ein schwacher Trost in dem Zustand, in welchem sie sich
befanden. „Wie unglücklich bin ich“, rief der Prinz, „in die Rinde
eines Baumes eingeschlossen zu sein, ohne mich bewegen zu können. Was
soll aus mir werden, wenn du mich verlässt? Aber“, fuhr er fort,
„warum solltest du dich von mir entfernen? Du wirst auf meinen Blüten
süßen Tau finden und einen Saft, der köstlicher ist als Honig. Du
wirst dich davon nähren können, und meine Blätter werden dir zum Lager
dienen, wo du nichts von der Bosheit der Spinnen zu befürchten hast."
„Fürchte nichts“, versetzte die Biene, „ich verlasse dich nie; nicht
Jasmin, nicht Rosen und Lilien, noch die schönsten aller Blumen können
mich eine solche Untreue begehen lassen. Ohne Unterlass werd' ich dich
umfliegen, und du wirft erkennen, dass der Orangenbaum der Biene nicht
weniger teuer ist, als es Prinz Vielgeliebt der Prinzessin Vielgeliebt
war." — Und wirklich schloss sie sich in eine der größten Blüten wie
in einen Palast ein.
Der Wald, in welchem der Orangenbaum stand, diente einer Prinzessin,
die in der Nähe einen prächtigen Palast bewohnte, häufig zum
Spaziergang. Sie hieß Linda und war jung, schön und klug. Sie wollte
sich nicht verheiraten, weil sie befürchtete, von dem, welchen sie zum
Gemahl wähle, nicht immer geliebt zu werden; und da sie sehr reich
war, so ließ sie ein kostbares Schloss bauen, und sah Niemanden darin
bei sich als Damen und Greise von Erfahrung und Weisheit. Allen
übrigen Männern war es nicht gestattet sich demselben zu nähern.
Die Hitze des Tages hatte die Prinzessin länger als sie wollte, im
Zimmer zurückgehalten; auf den Abend nun ging sie mit allen ihren
Damen im Walde spazieren. Der Duft des Orangenbaums, den sie niemals
hier gesehen hatte, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Man begriff
nicht, durch welchen Zufall er hierher gekommen sein könnte und die
ganze Gesellschaft umringte und bewunderte ihn.
Die Prinzessin verbot, nur eine einzige Blüte davon abzubrechen und
ließ ihn in ihren Garten tragen, wohin die treue Biene nachfolgte. Von
seinem köstlichen Geruch entzückt, setzte sich Linda unter seinem
Schatten nieder, und als sie wieder aufstand, um sich nach ihrem
Palast zu begeben, wollte sie sich ein paar Blüten von dem Baume
brechen. Aber die wachsame Biene, die es wohl bemerkte, flog aus dem
Kelch, in welchem sie verborgen war, heraus und stach die Prinzessin
so heftig, dass diese beinah in Ohnmacht gefallen war' und ganz krank,
ohne den Baum seiner Blüten beraubt zu haben, auf ihr Zimmer
zurückkehrte.
Sie gab jedoch ihren Plan nicht auf, denn sie empfand nun einmal eine
unüberwindliche Lust einen Strauß von Orangenblüten zu haben, stand am
andern Morgen zeitig auf und ging in den Garten, um sich von dem Baume
einen Strauß zu pflücken. Als sie aber die Hand ausstreckte, empfing
sie von der Biene wieder einen so empfindlichen Stich, dass sie allen
Mut dazu verlor.
Sie kehrte sehr übler Laune ans ihr Zimmer zurück und sagte: „Ich
begreife nicht was das mit dem Baume ist, den wir gestern im Walde
gefunden haben; sobald ich mir nur die kleinste Knospe davon abbrechen
will, werd' ich von Bienen gestochen, die ihn bewachen."
Eine ihrer Kammerfrauen, die einen aufgeweckten muntern Geist besaß,
entgegnete ihr lächelnd: „Ich würde euch rächen, gnädige Prinzessin,
euch wie eine Amazone zu bewaffnen und dann noch einmal mutig daran zu
gehen die schönsten Blüten dieses allerliebsten Baumes abzupflücken."
Linda fand diesen Gedanken gar nicht übel; sie ließ sich sogleich
einen Helm, einen leichten Panzer und eiserne Handschuhe machen, und
bei dem Schall der Trompeten, Pauken, Pfeifen und Hörner, betrat sie
den Garten in Begleitung ihrer sämtlichen Damen, die ganz eben so
bewaffnet waren. Als sie an den Orangenbaum kam, zog sie mit leichtem
Anstand den Degen, hieb einen Zweig desselben ab und rief:
„Erscheinet, ihr fürchterlichen Bienen, erscheinet, ich komme euch
herauszufordern; seid ihr mächtig genug, euern geliebten Baum zu
verteidigen?"
Aber wie ward der Prinzessin und allen ihren Begleiterinnen, als sie
aus dem Stamme des Orangenbaums ein wehmütiges Ach hörten, von einem
tiefen Seufzer begleitet, und aus dem abgehauenen Zweige Blut fließen
sahen. „O Himmel“, rief Linda erschrocken, „was hab' ich getan? Welche
Erscheinung!" Sie nahm den blutenden Zweig, aber vergebens versuchte
sie ihn an den Baum wieder anzufügen.
Die arme kleine Biene war bei dem Anblick des traurigen Schicksals
ihres geliebten Orangenbaums in Verzweiflung; schon wollte sie ihn
rächen und auf der Spitze des Degens ihren Tod finden; doch sie
entschloss sich, lieber für ihn zu leben und ihm das Heilmittel zu
verschaffen, dessen er bedurfte. Sie beschwor ihn um die Erlaubnis;,
nach Arabien fliegen zu dürfen, um ihm Balsam zu holen. Nachdem sie
Abschied von einander genommen hatten, machte sie sich auf den Weg,
von ihrem Instinkt und der Liebe geleitet. In kurzer Zeit kehrte sie
glücklich zurück und brachte auf ihren Flügeln und an ihren Füßchen
den wundersamen Balsam, mit welchem sie den Prinzen vollkommen heilte.
Linda war über das, was sie gesehen hatte, so erschrocken, dass sie
weder aß noch schlief. Endlich entschloss sie sich einige berühmte
Feen zu sich einzuladen, um über eine so außerordentliche Begebenheit
ins Klare zu gelangen; sie schickte ihre Gesandten ab und gab ihnen
eine Menge kostbarer Geschenke mit.
Eine der ersten, welche der Einladung folgten, war die Fee Trusio.
Eine geschicktere Fee als sie, hat es nie gegeben. Sie untersuchte
Zweig und Baum, sie roch an seine Blüten und fand den Geruch derselben
ganz ungewöhnlich. Sie sparte keinerlei Beschwörungen und diese
bewirkten endlich, dass der Orangenbaum plötzlich verschwand, und man
statt seiner den wohlgebildetesten Prinzen von der Welt erblickte.
Linda stand bei diesem Anblick ganz unbeweglich, sie war so überrascht
und von Bewunderung erfüllt, dass ihr Herz schon seine frühere
Gleichgültigkeit zu verlieren anfing, als der junge Prinz, nur mit
seiner geliebten Biene beschäftigt, sich der Fee Trusio zu Füßen warf.
„Große Königin“, sagte er zu ihr, „ich verdanke dir unendlich viel; du
gibst mir mit meiner natürlichen Gestalt den Gebrauch meines Lebens
wieder; wenn du aber willst, dass ich dir meine Ruhe verdanke, mein
Glück, ja mehr als mein Leben, so gib mir meine geliebte Prinzessin
wieder."
Bei diesen Worten nahm er die kleine Biene, auf die seine Augen ohne
Unterlass gerichtet gewesen waren.
„Du sollst glücklich werden“, antwortete die edelmütige Fee Trusio;
sie begann auf s neue ihre Beschwörungen, und die Prinzessin
Vielgeliebt stand da mit allen ihren Reizen.
Linda wusste nicht recht, ob sie sich über dieses außerordentliche
Abenteuer freuen oder betrüben sollte, besonders über die Verwandlung
der Biene. Endlich siegte die Vernunft über eine kaum entstandene
Neigung. Sie umarmte die Prinzessin Vielgeliebt auf das Zärtlichste
und Trusio bat dieselbe um die Erzählung ihrer Abenteuer.
Vielgeliebt erfüllte diese Bitte mit größter Anmut. Die Art, wie sie
dieselben vortrug, nahm die ganze Gesellschaft für sie ein und als sie
Trusio erzählte, dass sie durch die Kraft ihres Namens und ihres
Zauberstabes so viele Wunder verrichtet habe, schrieen alle vor Freude
laut auf und allgemein bat man die Fee, ihr schönes Werk zu vollenden.
Trusio empfand ihrerseits ein außerordentliches Vergnügen über alles
das, was sie vernahm, und schloss die Prinzessin zärtlich in ihre
Arme. „Reizende Vielgeliebt“, sagte sie zu ihr, „da ich euch schon so
nützlich gewesen, ohne euch zu kennen, so könnt ihr daraus schließen,
um wie viel mehr ich mich jetzt beeifern werde, euch zu dienen, da ich
euch kenne. Mein fliegender Wagen soll uns rasch nach der glücklichen
Insel führen, wo ihr Beide die günstigste Aufnahme finden werdet."
Linda bat sie jedoch auf das Inständigste noch einen Tag bei ihr zu
verweilen; sie machte ihnen die kostbarsten Geschenke, und die
Prinzessin Vielgeliebt legte ihre Tigerhaut ab, und zog ein prächtiges
Kleid an, welches ihrer Schönheit angemessener war.
Am andern Tage reisten sie ab. Trusio führte sie mitten durch die Luft
nach der glücklichen Insel, wo sie von dem König und der Königin,
welche jede Hoffnung, sie wieder zu sehen, aufgegeben hatten, mit
unaussprechlicher Freude empfangen wurden. Die Reize, der Verstand und
die Sittsamkeit der Prinzessin Vielgeliebt erwarben ihr die
Bewunderung und die Liebe Aller, und eben so fanden die trefflichen
Eigenschaften des Prinzen Vielgeliebt den größten Beifall.
Mit großer Pracht wurde die Hochzeit vollzogen und der erste Sohn,
welchen die Prinzessin Vielgeliebt ihrem Gemahl schenkte, erhielt den
Namen Treulieb.
Märchen der Welt, nach einer Übersetzung von Dr. Kletke, 1846, mit angepasster Schreibweise.