Märchen Autoren: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Märchen Titel: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Märchen Themen: | A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W Z |
Der Widder - Französische Märchen
Der Widder
An jenen glücklichen Zeiten, da es noch Feen gab, herrschte ein König,
der hatte drei Töchter; sie waren alle drei jung und schön, alle drei
besaßen Verstand und Talente, aber die jüngste war die
liebenswürdigste von ihnen und der Liebling des Königs, ihres Vaters;
sie führte den Namen Wunderhold. Der König schenkte ihr mehr Kleider
und Bänder in einem Monat, als ihren Schwestern in einem Jahre, sie
hatte aber ein so gutes Herz, dass sie alles mit ihren Schwestern
teilte, so dass sie immer in größter Eintracht lebten.
Der König hatte böse Nachbarn, die ihm den Frieden nicht gönnten und
ihn mit Krieg überzogen, so dass er genötigt war, alle mögliche
Gegenwehr zu treffen, wenn er nicht unterliegen wollte. Er sammelte
also eine große Armee und zog ins Feld. Die drei Prinzessinnen blieben
mit ihrer Hofmeisterin auf einem Schloss zurück, und empfingen täglich
die besten Nachrichten von ihrem Vater. Bald hatte er eine Stadt
erobert, bald eine Schlacht gewonnen. Endlich gelang es ihm, seine
Feinde ganz und gar aufs Haupt zu schlagen und sie aus seinen Staaten
zu vertreiben, worauf er schleunigst nach Hause zurückkehrte, um seine
kleine Wunderhold wieder zu sehen, die er so zärtlich liebte.
Die drei Prinzessinnen hatten sich schöne Kleider von Atlas machen
lassen, um ihren Vater zu bewillkommnen, die eine ein grünes, die
andere ein blaues und die jüngste ein weißes. Die Edelsteine stimmten
mit der Farbe der Kleider überein. Die Grüne hatte Smaragden, die
Blaue Türkise, die Weiße Diamanten, und so geschmückt gingen sie dem
König entgegen und begrüßten ihn mit einem Gesange, den sie zur Feier
seiner Siege gemacht hatten. Als er sie so schön und so vergnügt sah,
umarmte er sie alle Drei sehr zärtlich, die meisten Liebkosungen aber
erwies er Wunderhold, der Jüngsten.
Man trug ein prächtiges Mahl auf, der König und seine drei Töchter
setzten sich zur Tafel und da er auf alles Acht gab, fragte er die
Älteste: „Sag' mir doch, warum du dir ein grünes Kleid gewählt hast?"
„Gnädiger Herr Vater“, antwortete sie, „als ich von euren Taten hörte,
glaubte ich, Grün bezeichne am besten meine Freude und die Hoffnung,
euch bald zurückkehren zu sehen."
„Gut geantwortet!“, versetzte der König. „Und du, meine Tochter“,
wandte er sich zur Mittelsten, „warum hast du ein blaues Kleid
gewählt?"
„Gnädiger Herr Vater“, sagte die Prinzessin, „damit wollte ich
andeuten, dass ich die Götter ohne Unterlass für euch anflehe, und
weil, wenn ich euch sehe, ich den Himmel und die herrlichsten Gestirne
zu sehen meine."
„Du sprichst wie ein Buch“, sagte der König; „und du Wunderhold,
weshalb hast du dich in Weiß gekleidet?"
„Gnädiger Herr Vater“, antwortete sie, „weil diese Farbe mich am
besten kleidet."
„Wie“, rief der König erzürnt, „du eitles Geschöpf, also hattest du
keine andere Absicht, als dich zu putzen?"
„Ich hatte die, euch zu gefallen“, entgegnete die Prinzessin, „und es
scheint mir, ich durfte keine andere weiter haben."
Der König fand diese Antwort so vortrefflich, dass er ganz zufrieden
gestellt wurde; er lobte ihren Geist und wunderte sich, dass er den
wahren Sinn nicht sogleich verstanden hätte. Nun fuhr er fort: „Ich
habe so gut gespeist und will mich noch nicht schlafen legen, erzählt
mir doch, was ihr die Nacht vor meiner Ankunft geträumt habt."
Die Älteste sagte, sie hätte geträumt, der Vater brächte ihr ein Kleid
mit, das von Gold und Edelsteinen heller als die Sonne blitzte. Die
Zweite, sie habe geträumt, er brächte ihr ein Kleid und einen goldenen
Rocken mit, um ihm Hemden zu spinnen. Die Jüngste sagte, sie habe
geträumt, ihre mittelste Schwester mache Hochzeit, und an dem
Hochzeittage halte der König ein goldenes Waschbecken und sage zu ihr:
„Komm', Wunderhold, ich will dir Wasser auf die Hände gießen."
Über diesen Traum wurde der König sehr unwillig, runzelte die Stirn
und machte das grimmigste Gesicht von der Welt. Jedermann sah, dass er
sehr böse war. Er ging in sein Schlafgemach und legte sich gleich zu
Bette, aber der Traum seiner Tochter ging ihm immerzu durch den Kopf.
„Das unverschämte Ding“, sagte er, „sie möchte mich am Ende wohl noch
zu ihrem Bedienten machen. Ich wundere mich jetzt gar nicht, dass sie
das weiße Kleid gewählt hat, ohne an mich zu denken, sie hält mich
ihrer Gedanken für unwert! Aber ich will ihren boshaften Anschlägen
zuvorkommen, das will ich!"
Er stand wütend auf und obgleich es noch nicht Tag war, schickte er
nach dem Hauptmann seiner Leibwache und sagte zu ihm: „Ihr habt
gehört, welchen Traum Wunderhold gehabt hat, er bedeutet mir wenig
Gutes; ich befehl' euch also, sie auf der Stelle in den Wald zu führen
und dort zu töten. Zum Beweise, dass ihr meine Befehle vollzogen habt,
bringt ihr das Herz und die Zunge zurück; und wenn ihr es wagt, mich
zu hintergehen, so sollt ihr die schrecklichste Todesstrafe leiden."
Der Hauptmann war über einen so grausamen Befehl nicht wenig
erschrocken. Er wollte dem Könige nicht widersprechen, aus Furcht, er
möchte ihn noch mehr erzürnen und der König einen Andern damit
beauftragen. Er antwortete also, er wolle die Prinzessin sogleich in
den Wald führen, töten und ihr Herz und ihre Zunge ihm zurückbringen.
Er begab sich auf der Stelle in ihr Zimmer und benachrichtigte
Wunderhold, dass der König nach ihr verlange. Sie stand rasch auf,
eine kleine Mohrin, Patypata genannt, trug ihr die Schleppe und ihre
Meerkatze und ihr Mopschen, die ihr immer auf dem Fuß folgten, liefen
mit. Grabüschon hieß die Meerkatze und Tintin das Möpschen.
Der Hauptmann führte die Prinzessin nach dem Garten, wo, wie er
vorgab, sich der König befand, um frische Luft zu schöpfen. Er stellte
sich, als ob er ihn aufsuche und da sie ihn nicht fanden, sagte er:
„Ganz gewiss ist der König hinaus in den Wald gegangen." Er öffnete
die Gartentür und führte sie in den Wald.
Der Tag dämmerte schon ein wenig, und als die Prinzessin ihren Führer
ansah, standen ihm die Tränen in den Augen und er war so betrübt, dass
er kein Wort reden konnte. „Was fehlt euch“, fragte sie ihn mit der
liebenswürdigsten Freundlichkeit, ihr scheint mir so
niedergeschlagen?"
„Ach, gnädigste Prinzessin“, rief er aus, „wer würde es nicht sein
über den grausamsten Befehl, der je gegeben worden ist. Der König
befiehlt, dass ich euch hier das Leben nehme und ihm euer Herz und
eure Zunge zum Beweise der Tat zurückbringe, oder ich bin des Todes."
Die arme erschrockene Prinzessin wurde totenblass und Tränen glitten
über ihre Wangen; sie war wie ein Lamm, welches man zum Opfer führt.
Sie richtete die schönen Augen auf den Hauptmann und sagte in
rührendem Tone zu ihm: „Hättet ihr wohl den Mut, mich zu töten, mich,
die euch nie ein Leid zugefügt, die dem Könige nur Gutes von euch
gefügt hat? Wenn ich noch den Hass meines Vaters verdient hätte, so
würde ich die Folgen davon ohne Murren ertragen. Ach, ich habe ihm
jederzeit so viel Ehrfurcht und Liebe bewiesen, dass er sich, ohne
ungerecht zu sein, nicht über mich beklagen kann."
„Fürchtet euch nicht, schöne Prinzessin“, entgegnete der Hauptmann,
„dass ich fähig bin, ihm meine Hand zu einer so grausamen Handlung zu
leihen, viel lieber wollte ich den Tod erdulden, mit dem er mir droht;
aber wenn ich mich auch selbst ums Leben brächte, so würdet ihr darum
nicht sicherer sein: man muss vielmehr ein Mittel auffinden, dass ich
zum Könige zurückkehren und ihn überreden kann, ich hätte euch
wirklich umgebracht."
„Was können wir aber auffinden“, sagte Wunderhold, „ihr sollt ihm ja
meine Zunge und mein Herz überbringen, und ohne das wird er euch nicht
glauben?"
Patypata, welche alles mit angehört hatte, aber von dem Hauptmann und
der Prinzessin in ihrem Kummer ganz übersehen worden war, warf sich
jetzt voll Mut zu den Füßen ihrer Gebieterin und sagte: „Gnädige
Prinzessin, ich biete euch mein Leben an, lasst mir den Tod geben, ich
schätze mich glücklich, für eine so gütige Herrin mein Leben zu
lassen."
„Ach, meine teure Patypata“, entgegnete die Prinzessin, indem sie sie
umarmte und küsste, „nach einem solchen Beweis deiner zärtlichen
Freundschaft darf mir dein Leben nicht weniger wert sein, als mein
eigenes."
„Ihr tut Recht, meine Prinzessin“, fiel Grabüschon, die Meerkatze,
ein, „eine so treue Sklavin wie Patypata hoch zu halten. Sie kann euch
nützlicher sein, als ich; aber ich biete euch meine Zunge und mein
Herz mit Freuden dar, ich will mich durch diese Tat unter den
Meerkatzen unsterblich machen."
„Ach, meine liebenswürdige Grabüschon“, entgegnete die Prinzessin,
„ich kann den Gedanken nicht ertragen, dir das Leben zu nehmen."
„Unerträglich wär' es für mich“, schrie jetzt Tintin, das Möpschen,
„dass ein Anderer, als ich, sein Leben für meine Gebieterin hingeben
sollte, nein, nein, wenn Jemand sterben muss, so bin ich es."
Es erhob sich nun ein sehr lebhafter Streit zwischen Patypata,
Grabüschon und Tintin, bis endlich die Meerkatze, ungeduldiger, als
die Andern, auf einen Baum kletterte und sich von dem Wipfel desselben
herabstürzte und den Kopf zerschmetterte.
Wie sehr auch die Prinzessin den Tod der treuen Meerkatze beklagte,
willigte sie doch darein, da sie nun einmal tot war, dass der
Hauptmann ihr die Zunge ausschneide; allein zum Unglück war dieselbe
so klein, dass man nicht hoffen durfte, den König damit zu
hintergehen.
„Ach, meine liebe kleine Meerkatze“, rief die Prinzessin, „so bist du
also gestorben, ohne dass dein Tod mir das Leben rettet."
„Diese Ehre ist mir aufbewahrt“, unterbrach sie die Mohrin, ergriff zu
gleicher Zeit das Messer, dessen man sich bedient hatte, die Zunge der
Meerkatze auszuschneiden und durchbohrte sich die Brust.
Der Hauptmann wollte ihre Zunge mitnehmen, allein sie war so schwarz,
dass kein Gedanke war, den König damit zu täuschen.
„Wie unglücklich bin ich“, rief die Prinzessin in Tränen, „ich
verliere alles, was ich liebe, und doch wird mein Schicksal um nichts
gebessert."
Wenn ihr meinen Vorschlag angenommen hättet“, sagte Tintin, „so würdet
ihr nur mich allein zu beklagen haben, und ich hätte den Vorteil,
allein beklagt zu werden." — Bei diesen Worten verschied das treue
Hündchen vor Schmerz um feine Gebieterin.
Wunderhold küsste ihr kleines Hündchen und weinte bitterlich; sie
entfernte sich rasch, weil sie diesen Anblick nicht länger zu ertragen
vermochte. Als sie zurückkam, erblickte sie ihren Führer nicht mehr.
Sie legte die Mohrin, die Meerkatze und das Hündchen in eine Grube,
die sie am Fuß eines Baumes bemerkte, und dann dachte sie an ihre
Sicherheit. Da dieser Wald dem Schloss ihres Vaters so nahe lag, dass
die ersten besten Vorübergehenden sie sehen und erkennen, oder da die
Löwen und Wölfe sie wie ein Huhn hier verspeisen konnten, so fing sie
so rasch als möglich an zuzuschreiten; aber der Wald war so groß und
die Sonne so glühend, dass sie vor Hitze, Furcht und Müdigkeit fast
umkam. Nach keiner Seite hin, wo sie auch sehen mochte, konnte sie das
Ende dieses Waldes erblicken. Alles jagte ihr Schrecken ein; sie war
in beständiger Angst, der König käme hinter ihr her, um sie zu töten —
ihr kläglicher Zustand war nicht zu beschreiben.
Sie ging immerzu, ohne einen bestimmten Weg zu verfolgen, das
Strauchwerk zerriss ihr schönes Kleid und verwundete ihre zarte Haut.
Endlich hörte sie einen Widder blöken. „Ganz gewiss“, sagte sie, „sind
Schäfer mit ihren Herden in der Nähe; sie werden mich zu irgendeinem
Dorfe führen können, wo ich mich unter der Tracht einer Bäuerin
verbergen will."
„Ach“, fuhr sie fort, „Könige und Fürsten sind nicht immer am
glücklichsten! Wer sollte glauben, dass ich jetzt flüchtig umherirre,
dass mein Vater ohne allen Grund meinen Tod verlangt, und dass ich
mich verkleiden muss um ihm zu entfliehen I
Unter solchen Betrachtungen schritt sie immer nach der Richtung hin,
wo sie das Blöken gehört hatte, aber welche Überraschung! Auf einer
ziemlich umfangreichen Wiese, die mit Blumen rings umgeben war,
erblickte sie einen großen Widder, weiß wie Schnee, dessen Hörner
vergoldet und mit Blumenkränzen behangen waren; um seinen Hals hingen
Perlenschnüren von außerordentlicher Größe und eine Kette von
Diamanten. Er lag auf Orangenblüten und über ihm war ein Zelt von
Goldstoff ausgespannt, um ihn vor den Strahlen der Sonne zu schützen.
Hundert geputzte Widder standen um ihn herum, und weideten nicht etwa
auf dem Grase, sondern die einen genossen Kaffee, Sorbet, Eis,
Limonade, die andern Erdbeeren, Milch und Backwerk, dabei spielten sie
mit Karten und Würfeln; mehrere davon trugen goldene Halsbänder mit
witzigen Inschriften, kostbare Ohrgehänge, und waren überall mit
Blumen und Bändern umhangen.
Wunderhold war so erstaunt, dass sie fast unbeweglich stehen blieb.
Ihre Augen suchten den Schäfer einer so wunderbaren Herde, als der
schönste Widder hüpfend und springend auf sie zukam und zu ihr sagte:
Tretet näher, reizende Prinzessin, fürchtet euch nicht vor so sanften
und friedfertigen Geschöpfen, wie wir sind.
Welches Wunder! rief sie, Widder, die reden!
Prinzessin, entgegnete er, eure Meerkatze und euer Hündchen plauderten
so artig und ihr habt euch nicht darüber gewundert.
Eine Fee hatte ihnen die Gabe zu sprechen verliehen, versetzte
Wunderhold, und es war daher nichts so Außerordentliches.
Vielleicht ist dies mit uns der nämliche Fall, erwiderte der Widder
lächelnd. Aber schöne Prinzessin, was führt euch hierher?
Großes Unglück, Herr Widder, antwortete die Prinzessin; ich bin die
unglücklichste Person von der Welt, ich suche vor der Wut meines
Vaters eine Freistatt.
So kommt mit mir, sprach der Widder, ich biete euch eine Freistatt an,
in der euch Niemand entdecken soll, und wo ihr die unbeschränkte
Herrin sein werdet.
Ach, es ist mir unmöglich, euch zu folgen, sagte Wunderhold, ich bin
müde bis zum Tode.
Der Widder mit den goldnen Hörnern befahl seinen Wagen zu holen, und
sogleich sah man sechs Ziegen herbeikommen, die an einen hohlen Kürbis
von so wunderbarer Größe gespannt waren, dass zwei Personen ganz
bequem darin sitzen konnten. Die Sitze inwendig waren von Flaumfedern
und mit Sammet überzogen.
Die Prinzessin setzte sich hinein, die seltene Equipage bewundernd;
der Herr Widder setzte sich neben sie und die Ziegen rannten wie im
Flug einer Höhle zu, deren Eingang mit einem großen Steine
verschlossen war.
Der vergoldete Widder berührte denselben mit seinem Fuß und sogleich
öffnete sich die Tür. Er bat die Prinzessin, ohne Furcht
hineinzugehen. Sie hielt diese Höhle für einen so abschreckenden
Aufenthalt, dass sie unter andern Verhältnissen dieselbe um keinen
Preis betreten haben würde; jetzt aber in der Heftigkeit ihrer Angst
hätte sie sich wohl in einen Brunnen gestürzt.
Sie folgte also dem Widder, der vor ihr herging, ohne Zögern. Sie
stiegen so tief, so tief hinab, dass sie bis in den Grund der Erde zu
kommen meinte, und sie zuweilen die Furcht anwandelte, ihr Führer
bringe sie in das Totenreich.
Da breitete sich mit einmal eine weite Ebene vor ihnen aus, mit
tausenderlei mannigfaltigen Blumen geschmückt, deren Wohlgeruch den
aller Blumen in dem Garten des Königs weit übertraf. Ein breiter Strom
von Orangenwasser umfloss die Ebene, auf allen Seiten sprangen Quellen
von spanischem Wein und köstliche Liköre bildeten anmutige Wasserfälle
und kleine Bäche. Die ganze Ebene war mit sonderbaren Bäumen bedeckt.
Ganze Alleen waren mit köstlich gebratenen und gespickten Rebhühnern
besetzt, die an den Zweigen hingen; andre Alleen mit Fasanen,
Wachteln, Truthähnen und jungen Hühnchen. An einigen Stellen, ward die
Luft verdunkelt durch einen Regen von Krebsen, Torten, Pasteten,
Zuckerwerk, Gold, Silber, Perlen und Diamanten. Dieser seltene und
kostbare Regen würde gewiss viel Gesellschaft herbeigezogen haben,
wenn der Ernst des schönen Widders und sein würdevolles Wesen sie
nicht zurückgeschreckt hätten.
Da man sich in der schönsten Jahreszeit befand, als Wunderhold in
diesem reizenden Aufenthalt anlangte, so erblickte sie keinen Palast;
aber eine Reihe von Orangenbäumen, Jasmin, Geißblatt und Rosenhecken
bildeten mit verschlungenen Zweigen eine Menge Säle, Zimmer und
Kabinetts, die sämtlich auf das Prächtigste und Geschmackvollste
eingerichtet waren.
Der Widder sagte zur Prinzessin, sie möge sich als die unumschränkte
Gebieterin dieses Orts betrachten; er habe seit einigen Jahren
besonderen Grund zu Kummer und Tränen gehabt, aber es werde nur von
ihr abhängen, ihn seine Leiden vergessen zu lassen.
Ihr bezeugt euch so freundlich und großmütig, liebenswürdiger Widder,
antwortete die Prinzessin, und alles, was ich hier sehe, scheint mir
so außerordentlich, dass ich nicht weiß, was ich davon denken soll.
Kaum hatte sie das gesagt, so sah sie eine Menge reizender Nymphen
erscheinen, die ihr Früchte in Körbchen von Ambra darboten; aber da
sie sich ihnen nahern wollte, entfernten sie sich; sie streckte ihre
Arme aus, um sie zu berühren, aber sie fühlte nichts und erkannte nun,
dass es bloße Luftgebilde waren.
Ach, was ist das? rief sie, wo bin ich? Und dabei brach sie in Tränen
aus. Als König Widder (denn so nannte man ihn), der sie auf einige
Augenblicke allein gelassen hatte, wieder zurückkehrte und sie in
Tränen fand, war er so außer sich darüber, dass er zu ihren Füßen fast
gestorben wäre.
Was ist euch begegnet, schöne Prinzessin, fragte er sie, hat es Jemand
an Ehrfurcht gegen euch fehlen lassen?
Nein, nein, antwortete sie, ich habe mich über nichts der Art zu
beklagen, aber alles hier setzt mich in Furcht, ich bin nicht gewöhnt,
mit Geistern zu leben, und ich bitte euch, führt mich wieder auf die
Oberwelt zurück.
„Seid ohne alle Furcht“, versetzte der Widder, „würdigt mich, die
Geschichte meines traurigen Geschickes ruhig anzuhören, und ich hoffe,
eure Angst wird verschwinden."
„Ich bin auf dem Thron geboren, der Nachkömmling einer langen Reihe
von Königen. Ich beherrschte das schönste Königreich von der Welt und
wurde von meinen Untertanen geliebt, von meinen Nachbarn geachtet und
gefürchtet. Ich war ein leidenschaftlicher Liebhaber der Jagd, und als
ich eines Tages einen Hirsch mit großem Eifer verfolgte und mich von
allen meinen Begleitern entfernt hatte, sah ich den Hirsch sich
plötzlich in einen Teich stürzen. Ich trieb mein Pferd mit eben so
viel Kühnheit als Unvorsichtigkeit ihm nach, aber je weiter ich
vordrang, fühlte ich, statt der Kühle des Wassers eine desto größere
Hitze; endlich versiegte der Teich und ich stürzte in einen Schlund
hinab, aus welchem schreckliche Flammen emporschlugen.
Ich glaubte mich schon verloren, als ich eine Stimme hörte, die zu mir
sagte: Undankbarer, nicht weniger Feuer bedarf es, um dein Herz zu
entzünden.
Wie, wer beklagt sich hier über meine Kälte? entgegnete ich.
Eine Unglückliche, erwiderte die Stimme, die dich ohne Hoffnung
anbetet.
Zu gleicher Zeit verlosch das Feuer und ich erblickte eine Fee, die
ich seit meiner frühesten Jugend kannte, deren Alter und Hässlichkeit
aber mir immer abschreckend gewesen waren. Sie stützte sich auf eine
junge Sklavin von außerordentlicher Schönheit, die, zum Zeichen ihrer
Dienstbarkeit, goldene Ketten trug.
Welches Wunder geht hier vor, Ragotte? redete ich die Fee an,
geschieht das alles auf euern Befehl?
Auf wessen Befehl sonst? entgegnete sie. Hast du meine Zuneigung
bisher nicht bemerkt? Muss ich die Schande erfahren, sie dir selbst zu
gestehen? Haben denn meine Augen, die sonst so unwiderstehlich waren,
alle Kraft verloren? Bedenke, wie sehr ich mich erniedrige, dass ich
dir meine Schwäche eingestehe, denn wenn du gleich ein großer König
bist, so bist du doch gegen eine Fee, wie ich, nur ein Insekt.
Ich will alles sein, was ihr wollt, entgegnete ich ungeduldig, aber
sagt nur endlich, was verlangt ihr? Meine Krone, mein Reich, meine
Schätze?
Du Ohnmächtiger, erwiderte sie mit verächtlichem Ton, meine
Küchenjungen sind mächtiger als du, wenn ich will. Ich verlange dein
Herz, meine Augen haben es tausend und aber tausend Mal von dir
begehrt; aber du hast sie nicht verstanden, oder vielmehr, du hast sie
nicht verstehen wollen. Besäße eine andre deine Liebe, fuhr sie fort,
so würde ich mich zu trösten wissen, aber ich habe dich zu genau
beobachtet, um nicht zu wissen, welche Gleichgültigkeit in deinem
Herzen herrscht. — Wohlan, liebe mich, lass mich deine geliebte
Ragotte sein und ich will dir zu deinem Königreich noch zwanzig andere
schenken, hundert Türme voll Gold, fünfhundert voll Silber, mit einem
Wort, du sollst alles haben, was du begehrst.
Madame Ragotte, antwortete ich, es würde sich wenig schicken, in einem
solchen Loche, wo ich gebraten zu werden meine, einer Dame von eurem
Stande eine Liebeserklärung zu machen; ich ersuche euch, bei allen den
Reizen, die euch schmücken, mich in Freiheit zu setzen und dann wollen
wir sehn, was ich tun kann, um euch zufrieden zu stellen.
Ha, Verräter! schrie sie, wenn du mich liebtest, so würdest du nicht
erst in dein Königreich wollen; aber glaube ja nicht, dass ich so
unerfahren bin; du meinst mir zu entwischen, ich schwöre dir aber,
dass du hier bleibst, und das Erste, was du tun sollst, ist, meine
Widder zu hüten; sie haben Verstand und sprechen wenigstens eben so
gut als du.
Zu gleicher Zeit führte sie mich auf die Ebene, in der wir uns jetzt
befinden, und wies mir ihre Herde, der ich keine besondere
Aufmerksamkeit schenkte, weil die schöne Sklavin, welche die Fee
begleitete, meine Augen fesselte. Die grausame Ragotte bemerkte dies
kaum, so stürzte sie auf sie zu, und stieß ihr eine Nadel so tief ins
Auge, dass sie sogleich tot zur Erde sank.
Bei diesem entsetzlichen Anblick sprang ich mit dem bloßen Schwert in
der Hand auf Ragotten zu, entschlossen, das reizende Opfer ihrer
Grausamkeit an ihr zu rächen: aber ein Zauberwort von ihr machte mich
unbeweglich. Meine Anstrengungen waren vergeblich, ich warf mich auf
die Erde und wollte mir das Leben nehmen, um mich von dem Zustande zu
befreien, in welchem ich mich befand, als sie mit einem spöttischen
Lächeln zu mir sagte: Du sollst meine Macht kennen lernen; jetzt bist
du ein Löwe, du sollst aber ein Lamm werden.
Alsbald berührte sie mich mit ihrem Zauberstabe, und ich erhielt die
Gestalt, in welcher ihr mich hier seht. Ich verlor aber weder den
Gebrauch meiner Sprache, noch das schmerzliche Gefühl meines
Zustandes.
Du sollst fünf Jahre in dieser Verwandlung bleiben, sagte sie, und der
unumschränkte Beherrscher dieser schönen Gegend sein, während ich
entfernt von dir, ohne deine anmutige Gestalt mehr zu erblicken,
meinem Hass gegen dich nachhängen werde.
Sie verschwand; und wenn Etwas mein Unglück mildem konnte, so war es
ihre Entfernung. Die sprechenden Schafe, welche ich hier fand,
erkannten mich für ihren König; sie erzählten mir, dass sie das
Unglück gehabt hätten, der mächtigen Fee aus verschiedenen Gründen zu
missfallen, und gleich mir von ihr verwandelt worden seien, die Einen
auf längere, die Andern auf kürzere Zeit. In der Tat, sagte der
Widder, empfangen einige auch von Zeit zu Zeit ihre menschliche
Gestalt wieder und verlassen die Herde. Die Schatten aber gehören
Nebenbuhlerinnen und Feindinnen der Fee an, welche sie auf ein
Jahrhundert oder weniger getötet hat, und die dann auf die Welt
zurückkehren. Die junge Sklavin, von der ich euch erzählte, befindet
sich gleichfalls unter dieser Zahl; ich habe sie in der Folge öfters
mit Vergnügen gesehen, aber sie konnte nicht zu mir sprechen, und wenn
ich mich ihr nähern wollte, erkannte ich zu meinem Verdruss, dass es
nur ein Schatten war.
Seit drei Jahren habe ich keinen andern Wunsch, als den meiner
Freiheit; und das ist es, was mich zuweilen in den Wald lockt. Dort
hab' ich euch öfters gesehen, schöne Prinzessin, fuhr er fort; ach,
wenn ich es hätte wagen dürfen, euch die Empfindungen meines Herzens
zu gestehen, wie viel hätt' ich euch zu sagen gehabt! Aber wie hättet
ihr das Geständnis der Neigung eines unglücklichen Widders
aufgenommen!
Wunderhold war über alles das, was sie vernommen hatte, so verwirrt,
dass sie kaum wusste, was sie darauf antworten sollte; sie bewies sich
Indes so freundlich gegen den Widder, dass er wohl einige Hoffnung
schöpfen konnte. Sie fragte auch, sie habe nun weniger Furcht vor den
Schatten, da sie wüsste, dass sie eines Tages wieder ins Leben
zurückkehrten. Ach, fuhr sie fort, wenn meine arme Patypata, meine
teuere Grabüschon und der reizende Tintin, die um meinetwillen sich
dem Tode opferten, doch ein gleiches Loos haben könnten, wie glücklich
würde ich mich schätzen!
Seines Missgeschickes ungeachtet besaß König Widder doch sehr
annehmliche Vorrechte. Geht, sagte er zu einem seiner Untergebenen,
einem sehr gutmütig aussehenden Widder, geht und holt die Mohrin, die
Meerkatze und das Hündchen, ihre Schatten sollen der Prinzessin zur
Unterhaltung dienen.
Nach wenigen Augenblicken sah Wunderhold alle Drei, und obgleich sie
ihr nicht so nahe kamen, um von ihr berührt werden zu können, so
gereichte doch schon der bloße Anblick ihr zum größten Trost.
König Widder besaß so viel Geist und Feinheit, dass seine Unterhaltung
äußerst angenehm war. Er liebte die Prinzessin so leidenschaftlich,
dass er ihr gleichfalls Liebe einflößte. Warum sollte auch ein so
aufmerksamer, zärtlicher, liebenswürdiger Widder nicht gefallen, zumal
wenn man weiß, dass er ein König ist und seine Verwandlung ein Ende
nehmen muss! —
So verlebte die Prinzessin ihre Tage ganz angenehm, in Erwartung einer
noch glücklicheren Zukunft. Der Widder beschäftigte sich nur mit ihr,
veranstaltete Feste, Konzerte, Jagden, und seine Herde unterstützte
ihn aufs Beste.
Eines Tages, als die Boten zurückkehrten, die er beständig nach
Neuigkeiten aussandte, hinterbrachten sie ihm die Nachricht, dass die
älteste Schwester der Prinzessin Wunderhold im Begriff sei, sich mit
einem angesehenen Prinzen zu verheiraten, und dass man alle Anstalten
zu einer überaus prächtigen Hochzeitsfeier treffe.
Ach, rief Prinzessin Wunderhold, wie unglücklich bin ich, so viele
schöne Dinge nicht sehen zu können! Da befinde ich mich hier unter der
Erde, in Gesellschaft von Schatten und Schafen, und kann meine liebe
Schwester nicht sehen, die wie eine Königin geschmückt sein wird, und
kann allein an ihrer Freude keinen Teil nehmen!
Warum beklagt ihr euch? entgegnete der König der Widder, hab' ich euch
denn schon abgeschlagen, zur Hochzeit eurer Schwester zu reisen?
Reift, wann es euch gefällt, aber versprecht mir, zurückzukehren.
Haltet ihr aber euer Wort nicht, so werdet ihr mich zu euern Füßen
sterben sehen; denn meine Liebe ist zu heftig, als dass ich euch
verlieren könnte, ohne zugleich mein Leben zu lassen.
Wunderhold, gerührt, versprach dem Widder, nichts auf der Welt solle
sie abhalten, zu ihm zurückzukehren. Er gab ihr eine Equipage, die
ihrem Stande angemessen war, sie zog sich ein kostbares Kleid an und
vergaß nichts, was den Glanz ihrer Schönheit noch erhöhen konnte;
darauf setzte sie sich in einen Wagen von Perlemutter, welchen sechs
isabellenfarbige Flügelpferde zogen, und eine Menge reich gekleideter
Bedienten, die König Widder weit und breit zu seinem Gefolge hatte
herbeiholen lassen, begleiteten sie.
Sie langte an dem Palast des Königs, ihres Vaters an, in dem
Augenblick, wo man die Hochzeit feierte. Als sie eintrat, war das
Aufsehen, welches ihre Schönheit und ihr kostbarer Anzug erregten,
allgemein; sie hörte rund um sich nichts als Ausrufungen des Beifalls
und der Bewunderung. Der König betrachtete sie so aufmerksam, dass sie
schon fürchtete, von ihm erkannt zu werden, aber er war von ihrem Tode
so überzeugt, dass er gar keinen Gedanken hatte, wer sie sein könne.
Doch die Furcht, man könne sie zurückhalten, ließ sie das Ende der
Feierlichkeit nicht abwarten. Sie entfernte sich bald wieder, ließ
aber ein kleines Kästchen von Korallen und Smaragden zurück, auf
welchem mit diamantenen Buchstaben geschrieben stand: Schmuck für die
Braut. Man öffnete es sogleich, und welche Kostbarkeiten fand man
darin! Der König, der vor Begierde brannte, zu erfahren, wer sie sei,
war in Verzweiflung, sie nicht mehr zu sehen, und befahl ausdrücklich,
wenn sie je wiederkomme, alle Türen hinter ihr zu verschließen, und
sie da zu behalten.
Wie kurz auch die Abwesenheit der Prinzessin gewesen war, schien sie
dem König der Widder doch eine Ewigkeit. Er erwartete sie am Rande
einer Quelle, in dem Dickicht des Waldes; kaum hatte er sie erblickt,
so lief er auf sie zu, hüpfend und springend, und erwies ihr tausend
Zärtlichkeiten, legte sich zu ihren Füßen, küsste ihr die Hände und
erzählte ihr, welche Unruhe und Ungeduld er inzwischen ausgestanden
habe. Seine Liebe gab ihm eine Beredsamkeit, von der die Prinzessin
entzückt war.
Nach einiger Zeit verheiratete der König seine zweite Tochter.
Wunderhold erfuhr es, und bat den Widder um die Erlaubnis, auch diesem
Feste, an welchem sie so großen Anteil nahm, beiwohnen zu dürfen. Bei
diesen Worten konnte der Widder seinen Schmerz kaum bezwingen, allein
die Gefälligkeit gegen die Prinzessin siegte über alles Andere; er
hatte nicht die Kraft, ihre Bitte abzuschlagen. Ihr wollt mich
verlassen, sagte er zu ihr; nicht ihr, mein unglückliches Geschick
trägt die Schuld. Ich willige, in alles, was ihr wünscht, aber dies
ist das größte Opfer, welches ich euch bringen kann.
Die Prinzessin versicherte ihm, sie werde eben nicht länger
ausbleiben, als das erste Mal und beschwor ihn, sich nicht zu
beunruhigen. Sie bediente sich der nämlichen Equipage, und langte wie
damals gerade bei dem Anfang der Feierlichkeit an. Der Aufmerksamkeit
ungeachtet, welche dieselbe in Anspruch nahm, erhob sich bei dem
Erscheinen der Prinzessin Wunderhold ein allgemeiner Schrei der Freude
und Bewunderung. Aller Augen waren auf sie gerichtet, man konnte sich
nicht satt an ihr sehen, und fand ihre Schönheit so ungewöhnlich, dass
man beinahe geneigt war, die Fremde für keine Sterbliche zu halten.
Am Meisten freute sich der König, sie wieder zusehen; er wandte kein
Auge von ihr ab und befahl, alle Türen wohl zu verschließen, um sie da
zu behalten.
Als die Feierlichkeit ihrem Ende nahte, stand die Prinzessin rasch auf
und wollte sich unter der Menge verlieren, doch wie erschrocken und
bekümmert war sie, alle Türen verschlossen zu finden!
Der König näherte sich ihr ehrfurchtsvoll und mit einer
Freundlichkeit, die ihr Mut einflößte. Er bat sie, ihm nicht sobald
das Vergnügen ihrer Gegenwart zu entziehen, sondern das Festmahl zu
verherrlichen, welches er den Prinzen und Prinzessinnen gebe. Er
führte sie in einen prächtigen Saal, wo der ganze Hof versammelt war,
nahm ein goldenes Waschbecken und eine Kanne, und reichte es ihr dar,
um sich die Hände zu waschen.
In diesem Augenblick konnte sie ihr Gefühl nicht länger zurückhalten;
sie warf sich zu seinen Füßen, umschlang seine Knie und sagte: „So ist
also mein Traum erfüllt, ihr habt mir an dem Hochzeitstage meiner
Schwester das Waschwasser gereicht, ohne dass euch ein Unglück
widerfahren wäre."
Der König erkannte sie jetzt ohne Mühe; schon mehr als einmal hatte er
gefunden, dass sie seiner Tochter Wunderhold außerordentlich ähnlich
sehe^ „Ach, meine geliebte Tochter, rief er, sie umarmend und in
Tränen ausbrechend, kannst du meine Grausamkeit verzeihen? Ich habe
deinen Tod gewollt, weil ich glaubte, dein Traum bedeute den Verlust
meiner Krone. Er bedeutete ihn auch, fuhr er fort; deine beiden
Schwestern sind verheiratet, jede trägt eine Krone, die meinige aber
soll für dich sein."
Mit diesen Worten stand er auf, setzte seine Krone der Prinzessin
Wunderhold auf und rief: „Es lebe die Königin Wunderhold!" Und der
ganze Hof schrie mit.
Die beiden Schwestern der jungen Königin eilten herbei, umarmten sie
und erwiesen ihr die zärtlichsten Liebkosungen. Wunderhold weinte und
lachte zu gleicher Zeit; sie umarmte die Eine, sie sprach zu der
Andern, sie dankte dem Könige und dazwischen erinnerte sie sich des
Hauptmanns, dem sie ihr Leben zu danken hatte. Sie fragte dringend
nach ihm, aber man sagte, dass er tot sei, was ihr sehr nahe ging.
Als sie bei Tische saßen, bat sie der König, alles zu erzählen, was
ihr seit jenem traurigen Tage begegnet sei. Sie nahm sogleich das Wort
und alle hörten mit großer Aufmerksamkeit zu.
Während sie jedoch bei dem Könige und ihren Schwestern saß und alles
Übrige vergaß, sah der ungeduldige Widder die Stunde verstreichen, in
welcher die Prinzessin hatte zurückkehren wollen, und seine Ungeduld
wurde so heftig, dass er ihrer nicht Herr werden konnte.
„Sie will nicht mehr zurückkehren“, rief er aus, „meine unglückliche
Verzauberung schreckt sie zurück! O ich Unglücklicher, was werde ich
ohne Wunderhold anfangen? R weigerte man ihm hartnäckig, sie zu sehen.
Er brach in die rührendsten Klagen aus, die jeden Andern bewegt
hätten, nur jene hartherzigen Türsteher nicht, welche den Palast
bewachten. Endlich, im Übermaß seines Schmerzes, stürzte er zu Boden
und gab sein Leben auf.
Der König und Wunderhold hatten von dieser trübseligen Begebenheit
keine Ahnung. Jetzt schlug der König seiner Tochter vor, mit ihm in
den Wagen zu steigen und sich die Stadt zu besehen, die heute mit
vielen tausend und tausend Lampen auf das Prächtigste erleuchtet war.
Welch ein Anblick aber, da sie ihren geliebten Widder am Eingange des
Palastes hingestreckt fand, ohne ein Zeichen des Lebens! Sie stürzte
aus dem Wagen, sie lief auf ihn zu, sie weinte und jammerte, sie
wusste, dass nur der Mangel ihrer Pünktlichkeit den Tod des Widders
verschuldet habe. Sie befand sich in solcher Verzweiflung, dass sie
selbst jeden Augenblick zu sterben gedachte — aber vergebens. —
So sind die Höchsten der Erde den Schlägen des Schicksals nicht
weniger unterworfen, als andere, und oft erfahren sie den härtesten
Schlag in dem Augenblick, wo sie sich auf dem Gipfel ihrer Wünsche
glauben.
Märchen der Welt, nach einer Übersetzung von Dr. Kletke, 1846, mit angepasster Schreibweise.