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Marienkind - Märchen der Brüder Grimm
Marienkind
Vor
einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau und seinem
einzigen Kind, das war ein Mädchen und drei Jahre alt. Sie waren aber
so arm, dass sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht
wussten, was sie ihm sollten zu essen geben. Eines Morgens ging der
Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie
er da Holz hackte, stand auf einmal eine schone, große Frau vor ihm,
die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach
zu ihm: „ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins,
du bist arm und dürftig, bring nur dein lief fort. Die Angst wollt
auch nicht wieder weichen, es mochte anfangen was es wollte und das
Herz klopfte in einem fort und wollte nicht ruhig werden, auch das
Gold blieb an dem Finger und ging nicht ab, es mochte waschen so viel
es wollte.
Nach wenigen Tagen kam die Jungfrau Maria von ihrer Reise zurück, rief
das Mädchen und sprach: „Gib mir die Himmelsschlüssel wieder." Indem
es den Bund hinreichte, sah es die Jungfrau an und sprach: „hast du
auch nicht die dreizehnte Türe geöffnet?" — „Nein", antwortete es. Da
legte sie ihre Hand auf sein Herz, fühlte wie es klopfte und klopfte,
und sah, dass es ihr Gebot übertreten und die Türe aufgeschlossen
hatte: Da sprach sie noch einmal: „Hast du es gewiss nicht getan?"
„Nein", sagte das Mädchen zum zweiten Mal. Da erblickte sie den
goldnen Finger, womit es das himmlische Feuer angerührt hatte, und
wusste nun gewiss, dass es schuldig war, und sprach zum dritten Mal:
„Hast du es nicht getan?" „Nein", sagte das Mädchen zum dritten Mal.
Da sprach die Jungfrau Maria: „Du hast mir nicht gehorcht und hast
gelogen, du bist nicht mehr würdig im Himmel zu sein."
Da versank das Mädchen in einen tiefen, tiefen Schlaf und als es
erwachte, lag es unten auf der Erde bei einem hohen Baum, der rings
mit dichten Gebüschen umzäunt war, durch welche es nicht dringen
konnte. Der Mund war ihm auch verschlossen und es konnte kein Wort
reden. In dem Baum war eine Höhle, darin schlief es in der Nacht und
darin saß es bei Regen und Gewitter; Wurzeln und Waldbeeren waren
seine Nahrung, die suchte es sich, so weit es kommen konnte. Im Herbst
sammelte es die Blätter des Baumes und trug sie in die Hohle, und wenn
es dann schneite und fror, barg es sich darin. Auch verdarben seine
Kleider und fielen ihm ab, da musste es sich in die Blätter einhüllen.
Sobald dann die Sonne wieder warm schien, ging es heraus und setzte
sich vor den Baum, und seine langen Haare bedeckten es von allen
Seiten wie ein Mantel. So saß es lange Zeit und fühlte den Jammer und
das Elend der Welt.
Einmal zur Frühlingszeit jagte der König des Landes in dem Wald und
verfolgte ein Wild, und weil es in das Gebüsch geflohen war, das den
hohlen Baum umschloss, stieg er ab, riss es von einander und hieb sich
mit seinem Schwert einen Weg, Als er nun hindurch gedrungen war, sah
er unter dem Baum ein so wunderschönes Mädchen sitzen, das von seinem
goldenen Haar bis zu den Fußzehen bedeckt war. Da verwunderte er sich
und sprach: „Wie bist du in die Einöde gekommen?" Es schwieg aber
still, denn es konnte seinen Mund nicht auftun. Der König sprach
weiter: „Willst du mit mir auf mein Schloss gehen?" Da nickte es bloß
ein wenig mit dem Kopf. Der König nahm es auf seinen Arm und trug es
auf sein Pferd und führte es heim, wo er ihm Kleider anziehen ließ und
ihm alles im Überfluss gab. Und ob es gleich nicht sprechen konnte, so
war es doch so schon und lieblich, dass er es von Herzen lieb gewann,
und sich mit ihm vermählte.
Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur
Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein war, erschien ihr die
Jungfrau Maria und sprach: „Willst du nun die Wahrheit sagen und
gestehen, dass du die verbotene Tür aufgeschlossen hast, so will ich
dir deinen Mund offnen
und dir die Sprache wieder geben, bleibst du aber in der Sünde und
leugnest hartnäckig, so nehme ich dein neugebornes Kind mit mir." Da
war der Königin verliehen zu antworten, aber sie sprach: „nein, ich
habe die verbotene Tür nicht geöffnet" und die Jungfrau Maria nahm das
neugeborne Kind ihr aus dem Arme und verschwand damit. Am andern
Morgen, als das Kind fort war, ging ein Gemurmel unter den Leuten, die
Königin wäre eine Menschenfresserin und hätte ihr eigenes Kind
umgebracht. Sie hörte alles, und konnte nichts dagegen sagen, der
König aber hatte sie zu lieb, als dass er's glauben wollte.
Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn, da trat in der
Nacht auch wieder die Jungfrau Maria vor sie und sprach: „Willst du
nun gestehen, dass du die verbotene Türe geöffnet hast, so will ich
dir dein Kind wiedergeben und deinen Mund lösen, bleibst du aber in
der Sünde und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne mit mir."
Da sprach die Königin wiederum: „Nein, ich habe die verbotene Türe
nicht geöffnet"; und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg
und mit in den Himmel. Am Morgen, als die Leute hörten, dass auch
dieses verschwunden sei, sagten sie laut, die Königin hätte es
gegessen und des Königs Rate verlangten, dass sie sollte gerichtet
werden. Der König aber hatte sie so lieb, dass er es nicht glauben
wollte und den Räten befahl, bei Leibes- und Lebensstrafe nichts mehr
darüber zu sprechen.
Wieder nach einem Jahr gebar die Königin ein schönes Töchterlein, da
erschien ihr auch wieder Nachts die Jungfrau Maria und sprach: „folge
mir." Und sie nahm sie bei der Hand und führte sie in den Himmel und
zeigte ihr da ihre beiden ältesten Kinder, die lachten sie an und
spielten mit der Weltkugel. Und als sich die Königin darüber freute,
sprach die Jungfrau Maria: „Willst du nun eingestehen, dass du die
verbotene Tür geöffnet hast, so will ich dir deine beiden Söhnlein
zurück geben." Die Königin antwortete zum dritten Mal: „Nein, ich habe
die verbotene Türe nicht geöffnet." Da ließ sie die Jungfrau wieder
zur Erde sinken und nahm ihr auch das dritte Kind.
Am andern Morgen, als es ruchbar ward, schrieen alle Leute laut: „Die
Königin ist eine Menschenfresserin und muss verurteilt werden!" und
der König konnte seine Rate nicht mehr zurückweisen. Es wurde ein
Gericht über sie gehalten und weil sie nicht antworten und sich nicht
verteidigen konnte, ward sie verurteilt auf dem Scheiterhaufen zu
sterben.
Das Holz wurde zusammengetragen und als sie nun an den Pfahl
festgebunden war und das Feuer rings umher zu brennen anfing, da ward
ihr Herz von Reue bewegt und sie dachte, könnt ich vor meinem Tode
gestehen, dass ich die Türe geöffnet habe und rief: „O Maria, ich hab
es getan!" Und wie der Gedanke in ihr Herz kam, da fing der Himmel an
zu regnen und löschte die Feuerflammen und über ihr brach ein Licht
hervor und die Jungfrau Maria kam herab und hatte die beiden Söhnlein
zu ihren Seiten, das neu geborne Töchterlein auf dem Arm. Sie sprach
freundlich zu ihr: „Wer seine Sünde gesteht und bereut, dem ist sie
vergeben", und reichte ihr die Kinder, löste ihr den Mund, und gab ihr
Glück für ihr ganzes Leben.
Märchen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Berlin 1825 / 1843, mit angepasster Schreibweise.