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Das verratene Geheimnis - Märchen von J. W. Wolf
Das verratene Geheimnis
Es waren einmal ein Schuhmachergeselle und ein Schneidergeselle: Der Erste hieß Peter und der hatte Geld und war reich; der Zweite hieß Hans und hatte kein Geld und war arm. Die Zwei trafen sich einmal in der Herberge und wie sie denn so von allerhand Dingen sich unterhielten, sprach Peter auf einmal zu Hans: „Wollen wir nicht einmal auf Reisen gehen?" — „Ach Gott“, sprach Hans, „ich habe keinen Stüber (der Stuber war eine Münze im Nordwesten Deutschlands) Geld und wenn ich in der Herberge mein Glas zerbreche, dann kann ich es nicht einmal bezahlen." — „Was schert dich das“, antwortete Peter, „ich habe Geld und wenn du damit zufrieden bist, dann ziehen wir morgen schon zum Tore hinaus. Wir werden schon bald Arbeit finden und mit der Arbeit kommt das Geld, dann bist du geborgen und kannst leben wie ein Vögelchen im Hanfsamen." — „Ja“, sprach Hans, „wenn du mir schwören willst, dass wir als Brüder zusammenhalten und alles teilen, dann will ich mitmachen." Das schwur ihm Peter mit einem heiligen Eide zu und am andern Morgen packten beide ihren Ranzen und zogen aus der Stadt. Vor dem Tore sprach Peter: „Nun höre, Hans; jetzt wollen wir uns dreimal jeden Tag tüchtig satt essen und außer der Zeit nichts nehmen; damit sparen wir viel." —„Gut“, sprach Hans und so wanderten sie in die weite Welt und von einer Stadt zur andern und aßen alle Tage dreimal, aber sie konnten nirgends Arbeit finden. Als sie nun schon neun Tage also gewandert waren, da zog Peter seinen Beutel heraus und zählte sein Geld und als er das getan hatte, sprach er: „Hans, mein Beutelchen wird langsam mager, was meinst du, wenn wir nur zweimal im Tage äßen?" — „Gut“, sprach Hans, „was du willst, das will ich auch“, und da aßen sie alle Tage zweimal und wanderten weiter von einer Stadt in die andere und suchten überall Arbeit, aber nirgends konnten sie welche finden.
Das dauerte abermals neun Tage und am zehnten Tage zog Peter das Beutelchen
heraus und zählte wieder sein Geld und als er damit fertig war, sprach er:
„Hans, Hans, das Beutelchen bekommt Magenweh und wird uns nicht lang mehr
dienen, wenn wir nicht sparsamer sind. Was meinst du, wenn wir nur einmal im
Tage äßen?" — „Gut, in Gottes Namen“, sprach Hans und sie aßen nur einmal im
Tage und dabei wurden sie nicht allzu fett.
Sie wanderten dabei immerzu und fragten überall nach Arbeit, aber es war wie
verwünscht und sie bekamen keine und bekamen keine. Da wurde Petern sein
Versprechen leid und er steckte den größten Teil des Geldes, was er noch übrig
hatte, in seine Strümpfe und wartete bis am neunten Tag. Dann zeigte er Hans den
Beutel und sprach: „Hans, ich glaube, wir dürfen gar nicht mehr essen." — „Ja“,
sprach Hans, „das bin ich aber nicht gewohnt und dabei kann ich nicht leben
bleiben und noch weniger marschieren." — „Es ist aber nun einmal nicht anders“,
antwortete Peter, „du siehst das ja selbst." — „Warum musste ich auch so dumm
sein, mit dir zugehen“, rief Hans da, „nun sitzen wir in einem fremden Lande und
haben kein Brot." — „Hör'„, sprach Peter, „für heute will ich dir noch zu essen
geben, aber morgen nicht mehr“, und damit ging er in einen Bäckerladen und aß da
schnell drei große Brötchen; dann kaufte er noch eins und teilte das mit dem
armen Hans und der musste den ganzen Tag damit herumspringen. Am andern Tage
kaufte Peter nur ein Brötchen für sich und gab Hans nichts davon; da beklagte
sich Hans gar bitterlich und erinnerte seinen Gesellen an die geschworene
Brüderschaft, aber der wollte von nichts hören und gab auch keinen Bissen her.
So kamen sie in einen großen Wald und da konnte Hans vor Mattigkeit nicht weiter
kommen. Als der schlechte Peter das sah, da war er gar froh und sprach: „Nun,
ich will dir denn noch eine Schnitte geben, aber dafür musst du mir dein rechtes
Auge schenken." Was wollte der arme Hans da machen? Er dachte bei sich, es wäre
besser, das Auge verlieren, als vor Hunger sterben, und nahm die Schnitte Brot
und Peter stach ihm dafür das rechte Auge aus. Das war nun gut, aber mit der
Schnitte Brot konnte Hans doch nicht lange auskommen, wie kleine Bröckelchen er
auch davon abbrach, und so sank er am folgenden Tage abermals vor Mattigkeit
zusammen und weinte und klagte, dass es ein steinern Herz hätte erbarmen mögen.
Da jubelte Peter so recht falsch in sich hinein und sprach: „Nun, Hans, ich habe
Mitleid mit dir, ich will dir noch eine Schnitte Brot geben, dafür musst du mir
aber dein linkes Auge schenken." — „Ach Gott und Herr“, jammerte Hans, „dann
kann ich ja nicht mehr sehen, wenn ich keine Augen mehr habe." — „Das kann
nichts helfen“, sprach Peter, und Hans dachte: „Ei nun, ich werde mir dann mein
Brot an den Turm erbetteln; es gibt doch noch mitleidige Herzen auf der Welt"
und nahm die Schnitte Brot und Peter stach ihm auch das linke Auge aus. Das war
ein grundschlechter Kerl, nicht wahr? Kaum hatte er das aber getan, da trieb er
seine Falschheit noch weiter und ließ den armen Hans im Walde liegen und lief
fort, was er konnte. Da wusste Hans nun nicht mehr, was er anfangen sollte: Weil
er aber bang war, es möchte ein Wagen kommen und ihm über den Leib fahren, kroch
er von dem Wege ab und so lange fort, bis er einen großen Baum vor sich fühlte.
Inzwischen war es dunkele Nacht geworden und Hans hörte von fern einen Bären
brummen. „Dem muss ich aus dem Wege gehen“, sprach er und kletterte auf den Baum
und legte sich oben zwischen die Äste.
Es dauerte nicht lange, da kam der Bär heran und hatte noch zwei andere Tiere
bei sich, nämlich einen Fuchs und einen Wolf und die drei kamen dem Baume immer
näher und legten sich endlich darunter nieder. „Ah, ich weiß was, ich weiß was“,
hub der Bär da an und der Fuchs sprach: „Ja und ich weiß auch was"; und der Wolf
sprach: „Meinet ihr, ihr wüsstet alles? Ich weiß auch was." Da sprach der Bar:
„Höret, wollet ihr mir sagen, was ihr wisset, dann will ich euch sagen, was ich
weiß, und darüber habt ihr Freude, oh, ich weiß nicht wie!" „Ja“, antwortete der
Fuchs, „aber dann müssen wir uns erst untereinander versprechen, keinem Menschen
etwas davon zu sagen, denn wenn die Menschen wüssten, was ich weiß, dann
sprängen sie vor Freuden auf einem Bein herum." „Das ist bei mir auch der Fall,
das ist bei mir auch der Fall", sprachen die beiden andern und der Fuchs sagte:
„Nun, dann fang du an, Bar, denn du hast uns zuerst gesagt, dass du etwas
wüsstest." — „Nun gut“, sprach der Bar, „aber wenn einer von euch es verrät, den
fresse ich mit Haut und Haar. In der Stadt London ist große Wassernot und sie
fangen schon an, das Wasser mit Gläschen zu verkaufen, wie ehedem den
Branntwein. Wenn das noch ein Bisschen so dauert, dann sterben die Menschen alle
vor Durst und dann haben wir einmal ein Leben. Juchei! Alle Tage so viel wir
wollen." — „Ist der Not denn nicht abzuhelfen?“, fragte der Fuchs. „Da liegt der
Hase im Pfeffer“, antwortete der Bär, „und das ist just, was ich weiß, aber der
Deus holt euch, wenn ihr es einem sagt, denn damit wär' unser aller Freude
verdorben.
Auf dem Markte nämlich liegt ein Stein und wenn sie den aufhüben, dann hätten
sie Wasser, mehr als genug; denn unter dem Steine springt die reichste Quelle
der ganzen Welt." — „Wolf, wenn du es einem sagst“, sprach der Fuchs. „Bist du
toll, Fuchs?“, antwortete der Wolf; „aber nun lass auch einmal hören, was du
weißt." — „Nach dir", sprach der Fuchs und der Wolf begann: „Ja, ja, wenn die
Menschen wüssten, was ich weiß, da könnte sich einer guten Lohn verdienen. Da
ist des Königs von England Tochter, die liegt schon sieben Jahr krank und kein
Arzt in der Welt kann ihr helfen."— „Wie so?“, fragte der Bar. „Ja, da steckt
der Knoten“, antwortete der Wolf. „Als sie zur ersten Kommunion ging, da bekam
sie ein Goldstück, um das in den Opferkasten zu werfen. Statt hinein, fiel es
aber daneben und so lange das nicht darin ist, so lange kann sie nicht genesen."
Aber nun sag du uns auch, Fuchs, was du weißt." — „Wenn die Menschen wüssten,
was ich weiß“, sprach der Fuchs, „dann wäre manch einem geholfen und mancher
Blinde würde nicht länger blind sein." „Wie so?“, fragte der Bar und der Fuchs
antwortete: „Auf den Baum hier fällt heute Nacht ein Tau; wer sich damit dreimal
die Augen wäscht, der wird sehend und hätte er selbst keine Augen mehr im
Kopfe." „Das ist ein wunderbares Ding“, sprachen Bär und Wolf und darauf gaben
sich alle Drei die Pfoten und versprachen sich nochmals, nichts von den
Geheimnissen zu verraten und dann gingen sie auseinander. Hans hatte sich aber
alles wohl gemerkt und er reichte alsbald nach den Blättern und wusch sich die
Augen mit dem Tau und zur Stunde sah er wieder so klar, als vorher. Dann stieg
er stille nieder und eilte mit großen Schritten der Landstraße zu und darauf
immer weiter und weiter, bis er an die Stadt London kam. Da ging er auf den
Markt und zu der Herberge, wo die Ratsherren jeden Morgen ein Gläschen
Branntwein tranken und bat allda die Frau Wirtin um ein Glas Wasser. „Weg, du
unverschämter Kerl“, schrie die Wirtin, welche meinte, Hans hätte ihrer spotten
wollen, „wie kannst du dich unterstehen, ein Glas Wasser zu fordern, da du noch
nicht einmal Geld hast für ein Glas Wein." — „Ist das Wasser hier so rar" sagte
Hans, „das ist die Schuld eurer Ratsherren, die könnten euch dessen wohl
schaffen, wenn sie wollten." Das hörten die Ratsherren nicht sobald, als einer
derselben aufsprang, Hans beim Kragen fasste und rief: „Das sollst du mir
beweisen, du Schurke; wenn das Volk das hörte, es hinge uns all an den Galgen."
Darob lächelte Hans und sprach: „Ja, es ist eure Schuld, denn es springt ein
Quell in der Stadt, der so reichlich Wasser gibt als einer in der Welt. Gebt mir
nur zehntausend Taler, dann will ich euch denselben zeigen." Der Ratsherr rief
die andern Ratsherren zu sich und sie versprachen den Hans die zehntausend
Taler, aber Hans sagte: „Nein, ich muss sie erst in der Tasche haben." Da gaben
sie ihm das Geld und er ging mit ihnen auf den Markt und ließ den Stein aufheben
und da sprang so viel Wasser heraus, dass man auf dem Markt mit Nachen fahren
konnte. Nun war Hans ein reicher Mann; er ging zu einem Schneider und ließ sich
da einen schönen neuen Anzug machen, wie ihn die Doktoren trugen. Als der fertig
war, ging er zu dem Palast des Königs und ließ sich da melden und dem König
sagen, er wolle seine Tochter kurieren. Als der König das hörte, ließ er Hans
vor sich kommen und sagte zu ihm, wenn er die Prinzessin gesund machte, dann
sollte er sie zur Frau haben. „Ja, das ist kein leichtes Stück, das
Gesundmachen“, sprach Hans, „ich muss sie erst sehen und ihr den Puls fühlen."
Da führten sie den Hans zu der Königstochter und er fühlte ihr den Puls und
schüttelte bedächtig den Kopf und hustete einmal und rieb sich die Stirn, dann
sprach er: „Die Krankheit ist übernatürlich, aber ich will sie schon durch meine
Kunst vertreiben. Zuvor muss ich aber in meinen Büchern sehen, was darüber
geschrieben steht." Ach Gott, was war der König froh, als er das hörte: er
wollte dem Hans gleich hunderttausend Taler geben, aber Hans nahm nichts an und
ging nach Hause. Am andern Morgen kam er wieder und sprach, er hatte es nun
gefunden, und fragte, wo die Königstochter zur ersten Kommunion gegangen war? Da
zeigten sie ihm die Kirche und Hans hustete und sprach: „Hm, hm, so, so. Dann
bringt die Königstochter alsbald einmal her in die Kirche und setzet sie an die
Kommunionbank." Das geschah und als sie dasaß, fragte Hans, wohin sie das
Goldstück geworfen hätte? Das wies ihm die Königstochter und er ließ den
Opferstock wegräumen und holte das Goldstück aus einer Ritze, gab es ihr und
sprach, sie solle es nun in den Kasten werfen. Das tat sie und im selben
Augenblicke war sie gesund. Da war nun große Freude im Schlosse und die Hochzeit
wurde alsbald gehalten und Hans war ein reicher und mächtiger Prinz und fuhr
alle Tage spazieren. Eines Tages nun traf es sich, dass er mit seiner Frau über
die Landstraße fuhr und durch ein Dorf kam, da sah er einen Scherenschleifer der
rief: „Scherenschleif, Scherenschleif!" Die Stimme kam Hans ganz bekannt vor und
er sah dem Mann einmal ins Gesicht und — der war der falsche Peter. Jeder
andere, als Hans, hätte gleich ein paar Gendarmen kommen und den Peter
arretieren (verhaften) lassen; das mochte Hans aber nicht, er hatte ein zu gutes
Herz dafür. „Heda, Peter, bist du's?“, rief er dem Scherenschleifer zu und der
drehte sich verwundert um, und als er den großen Herrn in dem Wagen sah, da nahm
er seine Mütze ab und sprach demütig: „Ach Herr, wie komm ich denn zu der hohen
Ehre, dass ihr mich kennt?" — „Ei, Narr, ich bin Hans“, sprach der gute Hans und
habe mir das große Glück geholt auf dem Baume, gleich bei der Landstraße, wo du
mir die Augen ausgestochen hast." Und dabei lachte Hans so recht herzlich und
schenkte Peter noch eine Börse voll Dukaten und fuhr weiter. Peter aber sprach
in sich: „Ei, wenn der dumme Hans sich auf dem Baume sein Glück geholt hat, dann
kann ich das auch“, und er ging hin und als es Abend wurde, setzte er sich auf
den Baum. Es dauerte nicht lange, da kamen Bar, Fuchs und Wolf auch zu dem Baume
und ein jeder schimpfte aufs Beste, dass sein Geheimnis verraten wäre. Das hast
du getan, Rothose“, sprach der Wolf, aber der Bär nahm des Fuchses Partei und
sprach: „Nein, der ist zu klug dazu; aber du Wolf hast es ohne Zweifel getan, du
bist so ein dummer Kerl." „Ja, ja" fiel der Fuchs ein, „es ist nicht anders
möglich, der Wolf hat es getan und er muss darum hängen." — „Ich hängen?“,
schrie der Wolf, „Ich sage noch einmal, dass ich es nicht gewesen bin, und hat
der Fuchs es nicht verraten, dann hast du es getan, Bär."—„Was sagst du da!“,
rief der Bär und brummte einmal tüchtig, „Fuchs, wo ist ein Seil, marsch an den
Baum mit dem Verräter." Da drehte der Fuchs schnell ein Seil aus Bast und
schlang es um einen Ast des Baumes und der Bär packte den Wolf, tat ihm den
Strick um den Hals und zog an dem andern Ende, so dass der Wolf seine
Himmelfahrt begann. Der Bär war aber nicht sehr vertraut mit Hängemanns
Kunstgriffen und hatte den Knoten des Strickes gerade an des Wolfes Kehlkopf
gemacht, so dass der arme Sünder die Ohren in den Nacken legte, als der Bär ihn
heraufzog: indem der Wolf nun also unfreiwillig gen Himmel schaute, sah er den
falschen Peter oben in dem Gezweig sitzen und rief: „Ach, wie ist das Unrecht so
groß auf dieser Welt; da sitzt der Verräter auf dem Baume." Als Bär und Fuchs
das hörten, ließen sie den armen Wolf schnell nieder und holten den bösen Peter
herunter. Der verteidigte sich zwar aufs Beste und sprach immer, Hans hatte es
getan und sie sollten sich erst überzeugen; die drei Tiere hörten nicht auf ihn
und rissen ihn in Stücke und fraßen ihn auf bis zum letzten Knöchelchen.
Johannes Wilhelm Wolf, Deutsche Märchen und Sagen, 1845, mit angepasster Schreibweise.