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Das goldene Schloss - Märchen von J. W. Wolf
Das goldene Schloss
Es war einmal ein König und eine Königin, die wohnten in einem Schlosse von
purem Gold. Die Königin war eine Zauberin; sie hatte unter viel anderen Sachen
auch ein Spiegelchen; wenn der König herausging, dann schaute sie dahinein und
dann konnte sie alles sehen, wohin er ging, was er tat, gerade als hätte er vor
ihr gestanden; zugleich hatte sie alsdann die Macht, ihn überall hingehen zu
lassen, wohin sie wollte. Es geschah nun einmal, dass sie den König auf die Art
hin und wieder spazieren gehen ließ, bis er endlich an das Gestade der See kam.
Das Erste was er da fand, war ein toter Körper, den die Wellen ans Land geworfen
hatten. Als er denselben näher besah, erkannte er, dass es ein ertrunkener
Matrose war. Die Kleider desselben schienen ihm so seltsam, dass er sie für sein
Leben gern mitgenommen hätte; er zog sie denn auch dem Matrosen aus und sich an
und ging also seines Weges weiter.
Während er dies getan hatte, war die Königin in einem andern Zimmer gewesen; als
sie nun zurückkam und in ihr Spiegelchen schaute, sah sie statt ihres Mannes
einen Matrosen am Gestade; man kann sich leicht denken, wie sehr sie darüber
erschrocken sein muss. Der König inzwischen war nicht minder in Unruhe, denn er
fürchtete, es möchte einer von den Gesellen des Matrosen kommen und ihn als
einen Mörder und Dieb ergreifen.
Bekümmert und ängstlich ging er hierhin und dorthin und wusste nicht, was er
machen sollte. Endlich kam ihm eine alte Frau entgegen und er fragte diese recht
freundlich: „Sagt einmal, Frauchen, wo ist eigentlich der Weg nach dem goldenen
Schloss?" — „Nach dem goldenen Schloss?“, fragte die Frau. „Davon habe ich noch
nie gehört und es kann unmöglich hier in der Gegend liegen. Man sieht's auch
wohl an euren Kleidern, dass ihr hier nicht zu Hause seid. Kommt aber mit mir
zur Königin der kriechenden Tiere, die kann euch vielleicht Bescheid darum
geben."
Da ging der König mit der Frau und sie kamen an das Schloss der Königin der
kriechenden Tiere. Sie klopften an und ein Krötchen kam und machte die Tür auf
und als der König ihr sein Verlangen zu erkennen gegeben hatte, führte es ihn
vor die Königin. Diese saß auf einem prächtigen Thron und war umringt von
kriechenden Tieren aller Art, als Schnecken, Schlangen, Fröschen, Eidechsen und
wo weiter. Nachdem der König sie freundlich gegrüßt hatte, bat er sie, ihm zu
sagen, ob sie nicht wisse, wo das goldene Schloss gelegen sei? „Das goldene
Schloss?“, fragte die Königin verwundert; „das ist mir ganz und gar unbekannt
und es muss weit von hier liegen. Vielleicht weiß es einer meiner Untertanen."
Nun pfiff sie dreimal und eine zahllose Menge von Schlangen, Schnecken und
anderem Gewürm kroch von allen Seiten herzu, aber keines von all den Tieren
kannte das goldene Schloss. „Es tut mir sehr leid“, sprach die Königin, „dass
ich euch nicht bessern Bescheid geben kann, das macht aber nichts; ich werde
euch eine Führerin geben, welche euch zu der Königin der laufenden Tiere bringen
soll. Die steht einen Grad höher als ich und kann es euch eher sagen, wo das
goldene Schloss liegt." Mit den Worten winkte sie einem Schlänglein und das war
des Königs Geleiterin. Er bedankte sich herzlich bei der Königin und folgte dem
Schlänglein.
Nachdem sie schon sehr, sehr weit gegangen waren, hielt das Schlänglein an einem
Schlosse still und der König klopfte. Ein Hund machte die Tür auf, der König
dankte dem Schlänglein, und wurde in das Schloss geführt und vor einen kostbaren
Thron, der mit den schönsten Pelzen bekleidet war. Darauf saß die Königin der
laufenden Tiere und rings um sie herum stand ihr Hof, Löwen, Baren, Tiger,
Wölfe, Hirsche und allerhand anderes vierfüßig Getier. Er grüßte sie höflich und
fragte sie, ob sie ihm nicht zu sagen wisse, wo das goldene Schloss gelegen sei?
— „Davon habe ich nie sprechen hören“, antwortete die Königin, „vielleicht kennt
es einer meiner Untertanen." Darauf pfiff sie dreimal und da kamen Hunde,
Katzen, Hasen, Füchse, Ratten und Mäuslein und Gott weiß was all für Getier
gelaufen, auch Bären, Löwen, Kamele u. a., und die Königin fragte sie, ob sie
nicht wüssten, wo das goldene Schloss liege? Alle besannen sich lange, aber sie
erklärten endlich doch, sie wüssten es nicht. Darob war der König sehr betrübt,
aber die Königin tröstete ihn und sagte: „Alle Hoffnung ist noch nicht verloren;
ich will euch eine Geleitsfrau geben, die führt euch zur Königin der fliegenden
Tiere, welche einen Grad höher steht, als ich. Wenn die es auch nicht weiß, dann
kann euch niemand auf der ganzen Welt helfen." Damit winkte sie einem Kätzlein
und gab dies dem König mit als Geleitfrau. Er bedankte sich herzlich bei der
Königin und folgte dem Kätzlein.
Nachdem sie schon manchen Schritt und Tritt getan hatten, kamen sie endlich zum
Schloss der Königin der fliegenden Tiere. Das Kätzlein miaute und ein schöner
weißer Schwan kam, öffnete das Tor und führte den König in das Schloss und vor
die Königin. Diese saß auf einem prächtigen Thron, der mit schönen Federn von
allen Farben verziert war, und eine Krone von noch schöneren Federn prunkte auf
ihrem Haupte. Rund um den Thron herum stand ihr Hof, den Vögel aus allen
Gegenden der Welt bildeten: Adler, Pfauen, Paradiesvögel, Schwäne, Tauben und
Nachtigallen, welche liebliche Weisen sangen. Der König neigte sich höflich vor
ihr und sprach: „Ach, Königin, ich habe mich verirrt und weiß nicht mehr, wie
ich zu dem goldenen Schloss kommen soll." — „Das goldene Schloss?“, fragte sie
verwundert, „davon haben meine Tiere mir nie gesprochen und die fliegen doch
durch die ganze Welt. Aber wartet, ich will sie noch einmal fragen." Mit den
Worten pfiff sie und eine Menge Vögel aller Art erfüllte den Saal. Dann fragte
die Königin: „Wer von euch kennet das goldene Schloss?" Aber keiner von all den
Vögeln antwortete. Nun pfiff sie zum zweiten Male und eine noch viel größere
Zahl von Vögeln kam herbeigeflogen, aber auch von diesen kannte keiner das
Schloss. Da pfiff sie zum dritten Male und die fremdartigsten Vögel der Welt
versammelten sich um sie. Dreimal fragte sie dieselben: „Wer von euch kennet das
goldene Schloss?“, aber alle schwiegen still und sahen einander verwundert an,
denn davon hatten sie nie etwas gehört. Der arme König meinte zu verzweifeln. Da
sah einer von den Vögeln ganz, ganz weit in der Luft ein Pünktchen, welches
immer näher kam und immer größer wurde und als es endlich ganz nahe war, sah
man, dass es ein Storch war. Die Königin wurde böse, dass er nicht gleich auf
ihren Ruf gekommen war, und fragte ihn: „Wo bist du denn so lange geblieben?"
Der Storch antwortete: „Das müsset ihr mir nicht übel nehmen, ich komme von so
ferne. Ich saß auf dem goldenen Schloss, als ihr das erste Mal pfiffet." Da
hüpfte dem Könige das Herz im Leibe vor lauter Freuden und er bedankte sich mit
viel schönen Worten bei der Königin. Diese gab ihm den Storch als Geleitmann
mit, er setzte sich rittlings auf ihn und flog also durch die Luft dahin, so
hoch, dass ihm die allergrößten Städte der Welt nur wie Ameisennester
erschienen. Nicht weit vom goldenen Schlosse endlich senkte der Storch sich
immer mehr und mehr und ließ sich endlich an demselben nieder.
Man kann sich leicht denken, was die Königin für Freude hatte, als sie den König
wieder sah, nachdem sie ihn seit so langer Zeit für tot gehalten hatte, und der
König war nicht weniger froh, endlich wieder zu Hause und bei seiner lieben Frau
zu sein. Nachdem sie sich nun recht satt geküsst und geweint hatten, sprach der
König zu dem Storche: „Wir danken dir hunderttausendmal, liebster Storch, dass
du mich hierhin gebracht hast. Sage uns nun, wie wir dir das vergelten können.
Alles, was du verlangst, will ich dir geben." Der Storch antwortete: „Ich
verlange nichts anderes, als deinen erstgeborenen Sohn; den hole ich mir nach
Verlauf von sieben Jahren“; und als er das gesagt hatte, verschwand er. Da stand
nun der König und sah die Königin stumm und steif an; denn obgleich sie noch
kein Kind hatten, konnten sie doch binnen sieben Jahren noch eins kriegen.
Und also geschah es auch; es war noch kein Jahr verlaufen, als die Königin schon
einen Sohn gebar, ein über die Maßen schönes Kind. Je älter es wurde, um so mehr
nahm es an Schönheit und an Klugheit zu, doch hatte der König und die Königin
wenig Freude darob, denn sie dachten immer nur an das siebente Jahr und an den
Storch.
Endlich kam das siebente Jahr und im ganzen Schloss war Trauer; doch ließ der
König alles wohl und schön zurichten, um den Storch auf eine geziemende Weise zu
empfangen. Kaum hatten sie alles bereit, als der Storch angeflogen kam. Mit
Tränen in den Augen führten der König und die Königin ihr Söhnlein zu ihm und
baten ihn nur, dass er es doch nicht tot machen möchte. Als der Storch das sah,
schlug er freudig mit den Flügeln und klapperte ihnen zu: „Behaltet euer
Söhnlein nur, die Königin der fliegenden Tiere ist dadurch zufrieden gestellt,
dass ihr euer Wort so treu habt halten wollen." Was da für ein Gejubel in dem
Schlosse war, das kann man mit keiner Feder beschreiben. Der König ließ ein
großes Gastmahl anrichten, wo der Storch mit am Tische saß und vor sich eine
große Schüssel mit den schönsten und fettesten Fröschen stehen hatte, die man
nur finden konnte. Nach dem Gastmahl tanzte man und der Storch tanzte zuerst mit
der Königin, blieb auch noch verschiedene Tage in dem Schlosse; dann aber nahm
er eines Morgens vom Könige Abschied und flog weg.
Der König und die Königin und ihr Söhnlein aber lebten von da ab in Glück und
Freude und wenn das goldene Schloss nicht zusammengefallen ist, dann steht es
noch. — Wo denn? —Das musst du den Storch fragen.
Johannes Wilhelm Wolf, Deutsche Märchen und Sagen, 1845, mit angepasster Schreibweise.